Ein Risiko, aber revolutionär in der Umsetzung: „Hamilton“ soll Hamburg erobern
Er war einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika und deren erster Finanzminister, heute ziert sein Konterfei die Zehn-Dollar-Note: Alexander Hamilton. Sein Leben ist mittlerweile Stoff für das Musical „Hamilton“, das Stage Entertainment ab Oktober 2022 im Operettenhaus Hamburg zeigt – an dem Ort, an dem 1986 mit „Cats“ der Musicalboom in Deutschland begann.
Damals, vor 36 Jahren, war „Cats“ etwas völlig Neues. Achtmal pro Woche schlüpften Darstellerinnen und Darsteller in Katzenkostüme, sangen und tanzten auf der Bühne, bespielten sogar das Auditorium. Doch das Stück hatte Anlaufschwierigkeiten, Tickets wurden teilweise verschenkt, um die Menschen ins Operettenhaus zu locken und die Mund-zu-Mund-Propaganda in Schwung zu bringen. Inzwischen haben Millionen die singenden Katzen gesehen, das Stück von Andrew Lloyd Webber gilt als Kult-Klassiker.
Ein neues Musical-Zeitalter
„Cats“ markierte den Beginn eines neuen Zeitalters für das damals in Deutschland noch in den Kinderschuhen steckende Genre Musical. Auch „Hamilton“ markierte den Beginn eines neuen Musical-Zeitalters. Sechs Jahre arbeitete Lin-Manuel Miranda an seinem rund dreistündigen Werk, brachte es 2015 am New Yorker Off-Broadway zur Uraufführung, wo es zunächst als Geheimtipp galt, bis es schließlich an den großen Broadway transferiert wurde, mehr als 50 internationale Preise abräumte und dort noch immer vor ausverkauftem Haus spielt. Später eröffnete die Show in Chicago, es folgten mehrere US-Tourneen. „Hamilton“ schaffte im Dezember 2017 den Sprung über den großen Teich nach London, kam in Australien auf die Bühne und spielt aktuell außerdem in Los Angeles.
An allen Spielorten war die Produktion bislang auf Englisch zu erleben. In Hamburg wird die erste nicht-englischsprachige Inszenierung zu sehen sein. Dazu wurde mit Kevin Schroeder und Sera Finale ein Übersetzer-Duo verpflichtet, das drei Jahre daran gearbeitet hat, die rund 50 Songs und das mehr als 27.000 Wörter umfassende Libretto von Lin-Manuel Miranda für das deutsche Publikum zu adaptieren. „Diese Show hat doppelt so viele Wörter als normale Musicals, weil darin gerappt wird und man schneller rappt als singt“, erzählt der Hip-Hop-Musiker und Songwriter Sera Finale, der riesigen Respekt vor der Übersetzungsarbeit hatte.
Querverweise, Binnenreime, Wortspiele
Um „Hamilton“ ins Deutsche zu übertragen, mussten Finale und Schroeder Dinge wie Metrik, Inhalt, Melodie, Grammatik, Satzbau, aber auch Reimstruktur und Wortwitz beachten. Die allergrößte Herausforderung seien jedoch die Querverweise zwischen den Songs, die Binnenreime und Wortspiele gewesen. Beim Song „My Shot“, den das Duo am Tag der Cast-Präsentation in Hamburg auszugweise rappt, wird schnell deutlich, was mit Wortspielen gemeint ist. Denn der Satz „I am not throwing away my shot“ muss auf mehreren Ebenen funktionieren, weil mit „Shot“ nicht nur der Schuss aus einer Waffe, sondern auch eine Chance oder der alkoholische „Shot“ – also der Kurze – gemeint ist.
„Hamilton hat das Musicalgenre revolutioniert und bricht mit allen Konventionen“, sagt Stage-Geschäftsführerin Uschi Neuss. Ihr sei es ein großes Anliegen gewesen, seit sie die Show zum ersten Mal in New York sah, das Stück nach Deutschland zu bringen. „Wir wissen, dass wir damit ein Risiko eingehen. Aber das Stück ist so revolutionär in der Umsetzung und ein Kunstwerk für sich, das muss man in Deutschland sehen“, erklärt Produzentin Simone Linhof.
Moderne Geschichtsstunde im Straßenjargon
Inspiriert durch Ron Chernows Biografie über Alexander Hamilton, erzählt Lin-Manuel Miranda in seinem Musical die Lebensgeschichte von Hamilton (1755-1804), der als außereheliches Kind auf einer karibischen Insel geboren wurde, nach Amerika auswanderte und dort eine wichtige Figur der amerikanischen Revolution wurde. Während des Unabhängigkeitskrieges stieg er zu George Washingtons oberstem Berater auf, wurde später Finanzminister in der ersten amerikanischen Regierung, gründete die Nationalbank und ebnete den Weg zur Geburt der Vereinigten Staaten von Amerika, bis er in einem Duell den Tod fand.
Das ist keine leichte Kost und ziemlich viel Geschichtsunterricht, der in dem durchkomponierten Werk in rund drei Stunden durchgepeitscht wird. Was das Stück von anderen Historien-Musicals unterscheidet, ist die Tatsache, dass die Story im Straßenjargon erzählt wird und musikalisch von Hip-Hop, Rap und R’n’B geprägt ist, wobei auch Anleihen aus Jazz und Pop enthalten sind. Zu einer Geschichte, die von rebellierenden jungen Männern handelt, die sich von der britischen Unterdrückung befreien wollen, passt diese besondere Erzählform geradezu perfekt.
Colourblind besetzte Rollen
„Am spannendsten an der Besetzung fand ich, dass man außerhalb aller Schubladen und Boxen denken durfte“, sagt Casting-Direktor Ralf Schaedler. Denn „Hamilton“ ist auch in Hamburg colourblind besetzt. Die Titelrolle übernimmt Benét Monteiro („Die Eiskönigin“), sein Rivale Aaron Burr wird von Gino Emnes („Miss Saigon“) gespielt und „Voice of Germany“-Gewinnerin Ivy Quainoo wurde als Hamiltons Ehefrau Eliza verpflichtet.
Bei Produktionskosten in Höhe von rund 12 Millionen Euro, muss „Hamilton“ in Hamburg ein Jahr vor ausverkauftem Haus laufen. Das zu schaffen, wird eine Herausforderung sein, denn im deutschsprachigen Raum, wo die amerikanische Geschichte wenig präsent ist, denken die meisten Menschen beim Titel „Hamilton“ wohl zunächst an den gleichnamigen Rennfahrer.
Text: Dominik Lapp