Ein Tanz um den Titel: Wie ein neues Musical zu seinem Namen kam – und warum der Autor ihn nicht verrät
Krise als Chance begreifen. Aus der Not eine Tugend machen. Im Schlechten noch Gutes finden. All diese Sätze lesen sich angesichts der anhaltenden Corona-Krise wie zweckoptimistische Mantras, wirken wie – zugegeben etwas schale – Durchhalteparolen für Künstler und Kulturschaffende, um im Lockdown die Hoffnung hochzuhalten. Und scheinen doch wie geschaffen, wenn man beschreiben will, was der Antrieb für Alexander Wilbert war, sein jüngstes Musical zu Papier zu bringen. So entschlossen der Kraftakt seiner Autorschaft, so enthusiastisch er darüber berichtet, so irritierend ist die Tatsache, wie sehr er gerade um dessen Namen ein Geheimnis macht. Doch dafür gibt es Gründe, wie wir im Gespräch mit ihm erfahren.
Initialzündung für Alexander Wilbert war das Album einer Hamburger Sängerin und Liedermacherin: „Als ich’s am Anfang gehört hab, dachte ich: Das wird doch keinen interessieren. Aber ich finde es super. Und dann habe ich gemerkt: Die Musik spricht andere ebenfalls an. Manchmal ist es so: Man hört ein Lied und ist augenblicklich fasziniert. Dann hören es andere, teilen Deinen Enthusiasmus – und Du bist auf merkwürdige Art und Weise enttäuscht, dass Du Deine Entdeckung nicht für Dich behalten kann, dass Du diesen Schatz jetzt teilen muss. Bis Du realisierst: ‚Schön, dass wir uns überschneiden!‘ – Genau das habe ich mit meinem Stück erfahren.“
„Titel werden überbewertet.“
Alexander Wilbert, Musicaldarsteller
Gleich der erste Songtitel des Albums soll ebenfalls Titel des Musicals werden. So weit, so simpel. Das Problem: Indem er nur ein bisschen erzählt, gibt er schon zu viel preis. Aber indem er alles zu offenbaren scheint, verrät er letztlich nichts. Was so widersprüchlich klingt, verdeutlicht Alexander Wilbert anhand einer früheren Arbeit: „Ich habe in der Abiturzeit einen Text geschrieben für ein Kulturprojekt, der hieß ‚Ohne Titel‘. Alle sagten mir, ich müsse das Kind beim Namen nennen; ich habe mich geweigert. Bzw. mich letztlich quasi für einen Kompromiss entschieden: ‚Der Autor möchte dem Stück keinen Titel geben‘. Tatsächlich ging es darin um unsere Vorstellungen bzw. Fehlvorstellungen von Gott. Deswegen hat ‚Ohne Titel‘ total gepasst. Meine Religionslehrerin kam zu mir und meinte: ‚Einen wirklich schönen Text über Gott hast Du da geschrieben.‘ Dabei ging es eben gerade nicht um ihn. Titel werden überbewertet. Titel von Filmen, Namen von Menschen. Schon in unserem System, in unserer Sprache.“
Mit seinem aktuellen Musical verhalte es sich ähnlich: „Der Titel ist ein bisschen lustig. Er ist eher kommerziell, was ich aber schön finde. Und etwas kitschig. Mein Stück ist zuweilen ähnlich kitschig. Das muss so sein, um den Tiefgang auszugleichen. Wann immer ich anderen den Namen verraten, bei Cast-Gesprächen das erste Lied des Albums abgespielt habe, um meinen Darstellerinnen und Darstellern zu zeigen, wo sie stehen, wer sie sind, war die Reaktion: ‚Ah. Ja. Schönes Lied.‘ Die Vision aber, die ich von dem Stück mitgeben möchte, wird dadurch schnell klein, weil sie personifiziert wird. Dabei geht sie über die Musik hinaus. Darum finde ich es interessant, den Titel nicht zu nennen – weil auf diese Weise vieles offen gelassen wird.“
„Wir leben in einer Illusion der Harmonie.“
Alexander Wilbert, Musicaldarsteller
Die Leerstelle, so ließe sich vielleicht sagen, ist derart klein und gleichzeitig dermaßen gewaltig, würde sie gefüllt, wäre der Stoff entzaubert. Das Publikum wäre letzten Endes auf dem Holzweg, zumindest der schönen Chance beraubt, sich verführen zu lassen. Und um Verführung geht es Alexander Wilbert – in der Kunst wie im wahren Leben: „Wir leben in einer Illusion der Harmonie. Ist es ein Symptom der Gesellschaft, des Systems – oder des Menschen? Ich glaube, es ist all das – und man darf es nicht als das eine verkaufen. Wir dürfen nicht sagen: Das System hält uns zusammen. Die Gesellschaft hält uns zusammen. Unser Menschsein. Nein. Es ist von allem ein bisschen. Weil wir irgendwann Regeln aufgestellt haben, wie: ‚Du darfst niemanden totschlagen, sonst musst Du ins Gefängnis.‘ Doch da ist außerdem unser Wunsch, gut zu sein, für einander da zu sein. Mensch zu sein ist harte Arbeit. Aber lass Dich dazu verführen, sie zu tun! Vielleicht steht am Ende – nicht das Ende. Vielleicht sind die Zwischenetappen ebenfalls überraschend schön.“
Eine Zwischenetappe hat Wilbert selbst unlängst erreicht: Durch das bisherige Spendenaufkommen für sein Projekt auf gofundme kann er sein geplantes Konzeptvideo realisieren, welches in einem ersten Schritt auch die Komponistin für sein Musical einnehmen soll. Und nicht nur sie: „Das Crowdfunding ist deswegen so toll, weil ganz viele Leute von meinem Stück erfahren, sich damit auseinandersetzen. Es lebt davon, dass Menschen teilen, nicht von den Spenden an sich. Genau wie Geschichten davon leben, dass sie geteilt werden. Das ist das größte Geschenk für mich: meine Geschichte zu teilen.“
Text: Jan Hendrik Buchholz