Wiederentdeckt: Der Komponist Albéric Magnard und seine Oper „Guercoeur“
Abseits des Kernrepertoires der Opernhäuser wartet eine Vielzahl selten gespielter Opern auf ihre Wiederentdeckung. Das Theater Osnabrück nimmt sich in jeder Spielzeit einer solchen Opernrarität an und beweist damit großen Mut. Unbekannte Stücke verkaufen sich an der Theaterkasse schließlich schwerer als „Die Zauberflöte“ oder „Rigoletto“. In der Spielzeit 2018/2019 hat man sich in der Friedensstadt der Oper „Guercoeur“ von Albéric Magnard angenommen, die auf großes Publikumsinteresse gestoßen ist.
„Es ist mittlerweile Tradition bei uns, einmal im Jahr ein unbekanntes Werk des frühen 20. Jahrhunderts auf die Bühne zu bringen“, erklärt Ralf Waldschmidt, Intendant des Osnabrücker Theaters. „Es gibt schließlich eine Vielzahl von zu Unrecht vergessenen Werken, die man nur wenig oder gar nicht kennt.“ Als Waldschmidt vor acht Jahren Intendant in Osnabrück wurde, hat er Werke zusammengetragen, die Krieg und Frieden thematisieren. „Das liegt in der Tradition der Stadt und unseres Theaters, weil Osnabrück Friedensstadt ist.“ Und so war bei Waldschmidts Sammlung auch schnell Magnards „Guercoeur“ auf der Liste.
„Guercoeur“ ist eine musikalische Herausforderung
„Aufgrund der musikalischen Herausforderung, die diese Oper mit sich bringt, haben wir lange diskutiert, ob wir es machen sollen. Und jetzt haben wir es gemacht, weil wir der Ansicht waren, es jetzt zu können“, sagt der Intendant. Denn selbst in seinem Heimatland Frankreich spielt die Musik Albéric Magnards kaum noch eine Rolle, berichten Pierre Carrive von der Albéric-Magnard-Stiftung und Milena Vlach-Magnard, die Urenkelin des Komponisten. Beide sind anlässlich der letzten Vorstellung des „Guercoeur“ nach Osnabrück gekommen.
Magnards Werke wurden zu Lebzeiten zwar noch regelmäßig gespielt, doch der Komponist, der von 1865 bis 1914 lebte, war in seiner französischen Heimat nicht unumstritten. Zudem verhinderten tragische Umstände eine größere Verbreitung seiner Werke: Als Magnard im Ersten Weltkrieg sein Haus gegen deutsche Soldaten verteidigen wollte, wurde er erschossen und sein Haus in Brand gesetzt. In dem Haus befanden sich allerdings viele seiner Kompositionen, unter anderem auch der erste und dritte Akt seiner Oper „Guercoeur“. Nur der zweite Akt blieb erhalten.
Uraufführung 17 Jahre nach dem Tod des Komponisten
Mithilfe seines Freundes Guy Ropartz, der das Werk Magnards gut kannte und im Besitz eines Klavierauszugs war, konnten aus Fragmenten die beiden verlorenen Außenakte rekonstruiert werden. Doch erst im Jahr 1931, also erst 17 Jahre nach dem Tod des Komponisten, kam das Werk posthum zur Uraufführung. Danach verschwand die Oper für 88 Jahre von der Bildfläche. Sie galt als zu komplex, nicht aufführbar. Auch nachdem es im Jahr 1986 unter der Leitung von Michel Plasson mit José van Dam und Hildegard Behrens zu einer Kompletteinspielung des „Guercoeur“ kam, traute sich noch immer kein Opernhaus an das Werk – bis sich das Theater Osnabrück dieser Oper annahm.
Damit die Werke und das Leben Albéric Magnards nicht komplett in Vergessenheit geraten, hat es sich die französische Albéric-Magnard-Stiftung zum Ziel gemacht, umfassende Informationen über den Komponisten bereitzustellen. „Sein Leben und sein Werk sind für die Stiftung untrennbar miteinander verbunden“, sagt der Stiftungsvorsitzende Pierre Carrive. Deshalb werden auf der Webseite der Stiftung neben der Biografie Magnards auch einige seiner Briefe präsentiert.
Während seines gesamten Lebens korrespondierte der Komponist mit seiner Familie sowie mit Freunden und Kollegen, allen voran mit seinem Musikerfreund Guy Ropartz, den er 1886 am Konservatorium kennen gelernt hatte. Laut der Stiftung erkennt man in allen Briefen „das anspruchsvolle Wesen, das nach Perfektion strebt und niemals zufrieden ist. Man entdeckt in den Briefen aber auch eine besondere Persönlichkeit, verspielt und manchmal frech, voller Humor und fähig, die ernstesten Themen lustig zu verpacken.“
Magnards Musik innerhalb der Familie mit einem Trauma belegt
Die Korrespondenz Magnards liegt allerdings nur zur Hälfte vor, da die Antworten der Gesprächspartner während des Brandes von Magnards Anwesen im Jahr 1914 zerstört wurden. Seine Enkelin, die Historikerin Claire Vlach-Magnard, hat alle erhaltenen Briefe ihres Großvaters zusammengetragen und veröffentlicht. „Mit dem tragischen Tod meines Urgroßvaters war seine Musik in unserer Familie mit einem Trauma belegt. Aber meiner Mutter war es sehr wichtig, seine Briefe zu sammeln und zu veröffentlichen“, berichtet Urenkelin Milena Vlach-Magnard bei ihrem Besuch in Osnabrück. „Und diese Briefe waren für uns letztendlich eine ganz wichtige Quelle“, ergänzt der Osnabrücker Operndramaturg Christoph Lang.
„Seine Sinfonien werden so gut wie nie aufgeführt“
Albéric Magnard hat einige Sinfonien und kammermusikalische Stücke komponiert, außerdem drei Opern geschrieben. „Seine Sinfonien werden so gut wie nie aufgeführt, eher die Kammermusik“, weiß Pierre Carrive. Magnards erste Oper „Yolande“ kam im Dezember 1892 in Brüssel zur Uraufführung, „Guercoeur“ war seine zweite Oper, die zwischen 1897 und 1900 entstand, seine dritte Oper „Bérénice“ komponierte er zwischen 1905 und 1909, die Uraufführung fand im Dezember 1911 in Paris statt. Seit Magnard den „Guercoeur“ 1900 vollendet hatte, bemühte er sich intensiv um eine Aufführung. Zwei Jahre später bekundete der belgische Regisseur Maurice Kufferath Interesse an dem Werk, doch Magnard war skeptisch: „Ich sehe mein Paradies, meine Illusionen nicht in Brüssel. Ich brauche Bühnen- und Kostümbildner, die ich in Paris kaum finden kann. Und ich brauche einen Regisseur wie Albert Carré“.
Guy Ropartz führte im Jahr 1908 schließlich den dritten Akt der Oper konzertant im Rahmen der Concerts Colonne in Paris auf, 1910 folgte bei der gleichen Veranstaltung eine konzertante Aufführung des ersten Akts unter Gabriel Pierné. Doch die Pariser Kritiker waren bei den lokal umjubelten Aufführungen nicht anwesend. Auch bei der deutschen Erstaufführung im Juni 2019 in Osnabrück war nur ein Kritiker eines französischen Onlinemagazins anwesend, die Kritiker großer deutscher Zeitungen und Fachmedien hingegen zeigten sich begeistert – genauso wie das Publikum in Osnabrück.
Urenkelin will Erbe bewahren
Bei ihrem Besuch in Osnabrück erzählt Milena Vlach-Magnard, dass sie als Kind keinen großen Bezug zur Musik ihres Urgroßvaters hatte. In den 1980er Jahren sei sie mit ihrer Familie nach Toulouse gefahren, wo gerade die Gesamtaufnahme des „Guercoeur“ entstand. „Weil ich damals aber noch klein war, weiß ich erst jetzt um die Bedeutung der damaligen Aufnahme“, sagt die Urenkelin, die die letzte Nachfahrin des Komponisten ist. Seit dem Tod ihrer Mutter kümmert sie sich jetzt darum, das Erbe Albéric Magnards zu erhalten. „Es ist ein wertvolles Erbe, und meiner Mutter war es eine Herzensangelegenheit, dieses Erbe zu bewahren.“
Text: Dominik Lapp