Interview mit Chiara Fuhrmann: „Das Storytelling jedes Songs ist enorm wichtig“
Chiara Fuhrmann hat die Musicalwelt schon früh für sich entdeckt. In ihrem Kinderzimmer sang sie „Frei und schwerelos“ und träumte von einer beruflichen Laufbahn auf der Bühne. Heute ist dieser Traum Wirklichkeit: Die gebürtige Osnabrückerin schloss 2017 ihre Ausbildung zur Musicaldarstellerin an der Joop van den Ende Academy ab. Seitdem war sie unter anderem in „Bodyguard“ und „Ragtime“ zu sehen. Aktuell gehört sie zum Ensemble von „Wicked“ in Hamburg, wo sie auch als Elphaba auf der Bühne steht. Im Interview erzählt sie, wieso ihr diese Rolle besonders am Herzen liegt und warum die heutigere Interpretation der Neuinszenierung dem Musical von Stephen Schwartz guttut.
Die Neuinszenierung von „Wicked“ stand von Beginn an unter besonderer Beobachtung – von eingefleischten Fans, aber auch innerhalb der Branche. Was ist Ihr Eindruck: Ist die neue Version „angekommen“?
Total. Am Anfang hatte sich die Annahme „Das ist ja ganz anders und kann nicht gut werden“ sehr schnell verbreitet. Doch mittlerweile gibt es viele differenzierte Ansichten. Mir wird oft gesagt, dass keine Version die bessere ist. Und das sehe ich auch so. Beide Inszenierungen haben ihre Stärken. Und in beiden gibt es Dinge, die ich anders gemacht hätte. Aber es hat dem Stück auf jeden Fall gutgetan, eine heutige Sichtweise zu bekommen.
Wie profitiert das Stück Ihrer Einschätzung nach von dieser heutigen Sichtweise?
Die Geschichte an sich ist toll ist und hat eine wichtige Message. Aber sie ist eben auch fast 20 Jahre alt ist. Und in diesen Jahren ist sehr, sehr viel passiert. Diese Entwicklungen sind in die Neuinszenierung eingeflossen. Ein Beispiel für mich ist die Bewegung „Black Lives Matter“. Ich finde, die Botschaft, dass es keine Rolle spielt beziehungsweise spielen darf, wie jemand aussieht, kommt in dieser Version noch deutlicher rüber als in der Originalinszenierung. Und wenn ich die Rolle der Elphaba spiele, betrifft mich das persönlich auch noch einmal auf besondere Weise.
Haben Sie das Gefühl, dass sich diese Entwicklung nicht allein innerhalb eines Stücks wie jetzt bei „Wicked“, sondern auch in der Theaterwelt selbst vollzieht?
Absolut. Colourblind Casting hält verstärkt Einzug. Es könnte noch mehr sein. Aber es ist auf dem richtigen Weg. Es ist total wichtig, dass jeder für jede Rolle in Betracht gezogen wird – unabhängig vom Aussehen. Seit Februar 2022 ist Brittney Johnson als erste schwarze Darstellerin die Erstbesetzung der Glinda. Das ist ein wirklicher Meilenstein. Aber es hat auch fast 19 Jahre gedauert! Und das bei einer Rolle wie Glinda: ohne historischen Kontext. In einer fiktiven, fantastischen Geschichte. Da sollte die Hautfarbe doch völlig egal sein.
Sie spielen in „Wicked“ im Ensemble und die Rolle der Elphaba. Zuvor sagten Sie bereits, dass diese Rolle Sie auch persönlich besonders betrifft und prägt.
Das stimmt. Ich habe zwar in meinem Leben bisher so gut wie keine schlechten Erfahrungen mit rassistischen Äußerungen und Verhaltensweisen gemacht. Und da bin ich sehr dankbar für. Aber: Ich sehe anders aus. Zu meiner Schulzeit war ich eine der wenigen People of Color in meinem Umfeld. Ich hatte damit nie ein Problem. Aber anders auszusehen, war für mich immer einfach schon da. Dazu brauche ich keine grüne Schminke. Manchmal vergesse ich auf der Bühne sogar, dass ich grün bin. Weil ich grundsätzlich weiß, dass ich nicht so aussehe wie die meisten anderen. Das ermöglicht mir einen guten Zugang zu der Rolle. Ich glaube, es kann mir leichter fallen, mich in Elphaba hineinzuversetzen.
Wie haben Sie die Rolle der Elphaba für sich erarbeitet? Was ist Ihnen bei der Darstellung besonders wichtig?
Meine Probenzeit für Elphaba betrug drei Wochen. Davor habe ich mir schon viele Gedanken gemacht und jedes Lied für mich erarbeitet. Ich habe mich immer gefragt: Was will die Rolle? Wo steht sie am Anfang? Wo will sie hin? Für mich ist das Storytelling jedes einzelnen Songs enorm wichtig. Ich finde, wenn der Song zu Ende ist, sollte die Rolle an einem anderen Punkt in ihrer Entwicklung angelangt sein. „Der Zauberer und ich“ ist in „Wicked“ so ein Storytelling-Song. In ihm malt sich Elphaba ihre komplette Zukunft aus. Wenn du das nicht richtig erzählst, ist der Song verschwendet. In ihm kann so viel passieren: Da ist Aufregung und Nervosität. Sorge, dass doch noch was schiefgehen kann. Und die leise Hoffnung, dass zum ersten Mal in Elphabas Leben etwas gut läuft. Da kann man viel mehr draus machen, als nur den Text zu singen. Das ist bei „Frei und schwerelos“ und „Gutes tun“ nicht viel anders. Gerade „Gutes tun“ zeigt einen Schlüsselmoment der Show. Der Song ist eine besondere Herausforderung – aber er macht mir auch am meisten Spaß.
Sie haben vor „Wicked“ schon in „Ragtime“, „Bodyguard“, „Hairspray“ und „Aida“ gespielt. Welche dieser Rollen oder Produktionen liegt Ihnen besonders am Herzen?
Zum einen ist das „Wicked“. In Musicalkreisen ist Elphaba einfach die Rolle, die jeder kennt. Und ich habe „Frei und schwerelos“ schon als Kind in meinem Zimmer „geschrien“. (lacht) Allein für diese Rolle eingeladen zu werden – da war ich schon baff. Und wenn ich jetzt auf der Bühne stehe und „Frei und schwerelos“ anfängt, dann denke ich manchmal immer noch: Das bin ich. Das passiert gerade wirklich. Die andere Produktion ist „Bodyguard“. Das war mein allererster Job nach meiner Ausbildung. Als Schulabgängerin bin ich direkt direkt in eine Stage-Entertainment-Produktion gegangen: Mit 22 habe ich als Cover Rachel und Nicki Marron Rollen gespielt, die vom Spielalter zehn Jahre älter waren. Ich war die Jüngste aller Darstellerinnen, die diese Rollen verkörpert haben. Das hat schon einen gewissen Druck mit sich gebracht. Aber ich arbeite gut unter Druck – und ich habe in dieser Zeit sehr viel gelernt.
Wenn Sie als Kind schon „Frei und schwerelos“ gesungen haben: Wollten Sie schon immer auf die Musicalbühne?
Erst wollte ich Sängerin werden, dann Tänzerin. Mit 12 Jahren habe ich die Musicalwelt entdeckt und die Sache war klar. (lacht)
Mit welchem Stück haben Sie die Welt der Musicals für sich entdeckt?
Mit „Elisabeth“. Wenn man mich nach einer Traumrolle fragt – das ist sie. Das wird wahrscheinlich nie passieren. Bei ihr handelt es sich ja nun mal um eine historische Person, die ein bestimmtes Aussehen hatte. Da kann man darüber streiten, inwieweit sie colourblind besetzt werden kann. Und das kann ich in einem gewissen Maße auch verstehen. Aber machen würde ich es trotzdem gerne.
Welche Pläne gibt es denn für die Zeit nach „Wicked“?
Da gibt es schon konkrete Pläne, aber die darf ich noch nicht verraten. Ich freue mich allerdings schon sehr darauf. Es ist eine Rolle, die ich auch immer gerne spielen wollte. Bis Mitte Juli 2022 bin ich jetzt noch bei „Wicked“. Und dann komme ich für die letzte Show zurück. Das ist mir wichtig. Auch wenn mir Abschiede immer sehr schwerfallen. Bei der Dernière von „Wicked“ muss ich einfach dabei sein.
Interview: Corinna Ludwig, theaterliebe.com