Interview mit Judith Caspari: „Ich bin ins Musical reingerutscht und habe Blut geleckt“
Trotz klassischer Gesangsausbildung und ersten Engagements auf der Opernbühne, ist sie mittlerweile ein Shootingstar der deutschen Musicalszene: Judith Caspari. Die Kasselerin hat in Essen studiert und spielte am Staatstheater ihrer Geburtsstadt die Maria in der „West Side Story“, bevor sie für die Titelrolle in der Deutschlandpremiere von „Anastasia“ verpflichtet wurde. Danach folgten Hauptrollen in „Paramour“ und „Wicked“ sowie die Tournee von „Disney in Concert“. Aktuell spielt Judith Caspari die Natalie Goodman in „Next to Normal“ am Staatstheater Kassel, worüber sie im Interview genauso ausführlich spricht wie über starke Frauenrollen.
Das Musical „Next to Normal“ sollte am Staatstheater Kassel schon viel früher Premiere haben und wurde coronabedingt zwei Jahre lang verschoben. Wie groß ist die Freude, dass es jetzt auf die Bühne gekommen ist?
Das war eine riesengroße Freude. Es lag zwei Jahre und schien fast surreal, als wir uns immer mehr der Premiere näherten. Aber das ging nicht nur mir so, sondern auch meinen Kolleginnen und Kollegen sowie dem Kreativteam. Wir haben uns gefragt: Findet es wirklich statt? Es war schön, dieses Thema endlich abschließen zu können und unser Stück den Menschen zu zeigen. Der Premierenmoment war deshalb ganz besonders.
Ihr hattet schon früher für das Stück geprobt und wurdet dann durch Corona ausgebremst, oder?
Genau. Wir hatten damals schon den ersten Akt in unserem Bühnenbild geprobt und wollten gerade in den zweiten Akt gehen. Dann kam der Lockdown. Es war furchtbar, so aufhören zu müssen.
Bestand damals die Angst, dass „Next to Normal“ gar nicht mehr in Kassel rauskommt? Oder war immer fest geplant, die Premiere nachzuholen?
Erst sollte der Lockdown nur sechs Wochen dauern. Aber dann wurde er immer wieder verlängert. Dadurch stand die Premiere in den Sternen. Hinzu kam, dass es am Staatstheater Kassel einen Wechsel in der Intendanz gab. Aber „Next to Normal“ war schon zur Hälfte geprobt, es gab ein Konzept, das Bühnenbild war bereits gebaut – also hat Florian Lutz, der neue Intendant, gesagt, dass er die Produktion mit dem Team in seine erste Spielzeit mitnehmen möchte. Das war nicht selbstverständlich, hat uns aber natürlich sehr gefreut.
Das Bühnenbild mit seiner Wabenkonstruktion ist sehr besonders und ursprünglich Corona geschuldet gewesen. Hat sich etwas an der Inszenierung verändert im Vergleich, wie ihr es damals geprobt hattet?
Das Grundkonzept ist ähnlich geblieben. Es ist sehr herausfordernd, sowohl für die Mitwirkenden als auch für das Publikum. Wir dürfen einander auf der Bühne nur selten sehen, gucken fast immer nur nach vorn. Dabei haben wir verschiedene Punkte für jede einzelne Person. Es ist schon sehr diffus, hat aber dennoch eine klare Struktur. Man ist in den Waben wie in seiner eigenen Welt, kann die anderen kaum hören oder sehen. Doch es ist ein geniales Sinnbild für die Familie Goodman. Von außen sieht es aus, als würden wir uns sehen, während wir eigentlich komplett voneinander isoliert sind und alle für sich selbst in diesem Gebilde der Familie kämpfen.
Es ist sicher eine Ausnahmesituation, wenn man auf der Bühne so sehr voneinander isoliert ist. Man spielt einerseits miteinander und andererseits doch nicht. Das ist wirklich genial, wie es der Familiensituation der Goodmans gerecht wird.
Ja, komplett. Ich spiele als Natalie die Tochter einer Mutter, die eine bipolare Störung hat. Es ist eine große Herausforderung, weil Natalie natürlich auch psychisch belastet ist – ob nun genetisch bedingt oder durch die ganze Situation mit ihrer Mutter, ist nicht ganz klar. Gerade in den Endproben habe ich immer wieder feststellen müssen, dass der Stoff des Musicals mich sehr mitnimmt und berührt. Die Unsicherheit der Rolle der Natalie und ihre Figur des unsichtbaren Mädchens wirkte mit einer enormen Kraft auf mich ein. Ich habe mit ihr oft sehr mitgelitten und musste nach und nach lernen, mich bewusster als sonst von meiner Rolle zu distanzieren. Wenn ich in meine Wabe einsteige, bin ich jedes Mal wieder gespannt, was passieren wird. Es fühlt sich wie eine Pinball Machine an, als würde man einsteigen und hin- und herspringen. Das ist ein sehr krasses und nicht so bequemes Konzept. Aber ich finde es besonders, neu, spannend und herausfordernd.
Natalie Goodman, die du spielst, ist ein musikalisches Wunderkind. Warst du früher auch so ein Kind?
Ich habe immer gern gesungen, wollte Opernsängerin werden – allerdings nicht wegen des Gesangs, sondern wegen der schönen Kleider. (lacht) Ich wusste gar nicht, dass ich eine solistische Stimme habe, da ich im Schulchor gesungen habe. Erst mit 17 Jahren, somit relativ spät, wurde mir klar, dass man das beruflich machen kann. Ich würde mich also nicht als das typische musikalische Wunderkind bezeichnen. Ich hatte zwar auch Klavierunterricht und immer gern Klavier gespielt, es hat sich aber nie so angefühlt, als wäre es meine berufliche Zukunft. Außerdem begann ich schon als 17-Jährige, auf verschiedenen Bühnen Musical zu machen, startete dann meine Theaterkarriere jedoch in der Oper. Mit „Anastasia“ kam mein Durchbruch in der deutschen Musicalszene.
Also hast du an der Folkwang Universität der Künste in Essen nicht Musical studiert, sondern klassischen Gesang?
Genau. Ich wollte immer klassische Sängerin werden und war als Jugendliche am Staatstheater Kassel im Extrachor. Danach habe ich in Essen studiert und war am Opernstudio in Gelsenkirchen, wo ich unter anderem in „The Turn of the Screw“ und „Die Zauberflöte“ gesungen habe. Im Joballtag am Opernstudio merkte ich, dass die klassische Szene nicht ganz so meins ist. Ich liebe zwar noch immer die Belcanto-Technik und klassisch zu singen, aber ich bin ins Musical reingerutscht und habe Blut geleckt. Jetzt singe ich immer weiter für Musicals vor und möchte, dass es erst mal in diese Richtung weitergeht.
Mit deinem Engagement in „Anastasia“ ging es ziemlich steil nach oben, plötzlich hattest du sehr viele Follower bei Instagram, warst bekannt. Was hat das mit dir gemacht, auf einmal im Mittelpunkt zu stehen?
Ja, das ging superschnell. Ich erinnere mich noch sehr gut, dass ich für meinen ersten Promo-Auftritt als Anastasia für unseren internationalen Vier-Anyas-Videodreh nach New York musste. Als ich dafür am Broadway auf der Bühne des Broadhurst Theatre stand, war mein einziger Gedanke, dass ich dieses Gefühl niemals wieder vergessen darf. Ich wollte mich an diesen besonderen Moment für immer erinnern. Das war so krass – und es gibt immer wieder Momente, vor Auditions oder wenn ich mal an mir zweifle, wo ich mich daran erinnere. Ich muss damals um die 200 Follower auf Instagram gehabt haben. Als ich zurückgeflogen bin, wurde ich schon bei Playbill und Co. als deutsche Anastasia angekündigt. Bei meiner Ankunft in Deutschland hatte ich mehr als 1.000 neue Follower und viele private Nachrichten von Leuten aus Amerika. Das ging alles so schnell und war echt viel. Es war eine enorme Herausforderung für meine Stimme und die Psyche. Ich habe zwar alles gut gepackt, aber richtig verarbeiten konnte ich es erst, als 2020 der erste Corona-Lockdown kam.
Bislang hast du immer sehr besondere Frauen gespielt: Bei Maria ist es mit der Liebe kompliziert, Anastasia ist auf der Suche nach ihrer Identität, Glinda hat eine Hintergrundgeschichte. Hat sich das durch Zufall ergeben oder ist das ein Rollenporträt, auf das du dich bewusst bewirbst?
Natürlich interessieren mich starke Frauenrollen, die etwas zu sagen haben, tendenziell mehr. Man muss aber dazu sagen, dass es mittlerweile viele spannende Frauenrollen auf dem Musicalmarkt gibt. Es sind eher die älteren Stücke, wo noch Frauenbilder gezeichnet werden, die ich nicht unbedingt auf die Bühne bringen möchte. Aber klar, ich würde schon sagen, dass mich starke Frauenrollen sehr reizen, weil ich mich auch privat sehr für Feminismus interessiere. Mich interessiert, wie ich den Feminismus ins Theater und in meine Rollen bringen kann. Ich möchte das rüberbringen und es Menschen zugänglich machen, die sich vor dem Thema vielleicht sogar scheuen. Ich möchte gern mit Leuten, die über Feminismus lachen oder darüber die Augen rollen, in einen Diskurs kommen. Also versuche ich, das in meiner kreativen Arbeit zu realisieren und in meine Rollen einzubringen.
Was muss sich generell am Theater im Hinblick auf Themen wie Feminismus oder Diversität ändern?
Die Themen Feminismus und Diversität würde ich getrennt betrachten, weil es unterschiedliche Debatten sind – aber beide gleich wichtig. So wie über Jahrzehnte die Musicals und die größten Rollen von Männern dominiert wurden, so wurden über Jahrzehnte in vielen Produktionen PoC-Darstellerinnen und -Darsteller aufgrund ihrer Hautfarbe nicht für bestimmte Produktionen gecastet. Es ist unfassbar wichtig, dass wir uns alle mit diesen Problemen beschäftigen, gemeinsam mehr Gerechtigkeit schaffen und ebenso annehmen, dass wir selbst eventuell aufgrund dieser Problematik äußerst privilegiert aufgewachsen sind und Karriere gemacht haben. Ich habe jedoch das Gefühl, dass sich bei beiden Problemen langsam etwas im Theater regt und ändert. Jedoch sind wir noch lange nicht angekommen und müssen uns weiterhin für alle Darstellerinnen und PoC-Menschen stark machen. Eine weitere wichtige Debatte hat sich für mich persönlich aufgetan, als ich bei „Wicked“ neben Glinda auch ein Cover für Nessarose hatte. Mein Gefühl zu diesem Cover wurde nach und nach schlechter, weil ich es als ungerecht empfand, dass auf den großen Bühnen noch immer keine Menschen mit Behinderung ihren Platz finden können und ich mich aber Abend für Abend in einen Rollstuhl setzte. Theater sind teilweise nicht einmal komplett barrierefrei und es gibt noch immer nur sehr wenige Möglichkeiten für Menschen mit Beeinträchtigung oder einer Behinderung, im Theater zu arbeiten. Ich fände es großartig, wenn unsere Musicalwelt weiterhin noch bunter, diverser und offener wird. Das ist ein großer Traum von mir, für den ich mich gerne einsetze. Wir alle können gemeinsam noch viel bewegen.
Interview: Dominik Lapp