
Interview mit Martin Berger: „Im Musical gibt es keine großen Visionäre mehr“
Seit mehr als drei Jahrzehnten steht Martin Berger auf der Bühne und begeistert mit seiner Vielseitigkeit und Leidenschaft für das Musicalgenre. Seine Karriere begann in den Neunzigerjahren, und seither hat er in einigen der größten Produktionen mitgewirkt – von „Les Misérables“ über „Miss Saigon“ und „Tanz der Vampire“ bis zu „We Will Rock You“, aber auch in Stadttheater-Produktionen wie „Titanic“. Doch nicht nur die Stücke, sondern auch die Orte, an denen er gespielt hat, sind für ihn prägende Stationen seiner Laufbahn. Aktuell ist er mit „Die Schöne und das Biest“ auf Tour und blickt dabei nicht nur auf seine Erfolge zurück, sondern auch auf eine sich wandelnde Branche. Im Interview erzählt der Musicaldarsteller von unvergesslichen Momenten, inspirierenden Begegnungen und davon, was ihn nach all den Jahren noch antreibt.
Martin, du bist mittlerweile seit mehr als 30 Jahren im Geschäft.
Ja, tatsächlich. Ich musste das neulich nachrechnen, und es sind mittlerweile 33 Jahre, seit 1992.
Wenn du auf diese 33 Jahre zurückblickst, gibt es ein Highlight, das dir besonders in Erinnerung geblieben ist?
Da gibt es natürlich viele Momente. Besonders jetzt auf der Tour von „Die Schöne und das Biest“ wurde mir das bewusst. Wir haben zum Beispiel im Theater am Marientor in Duisburg gespielt. Dieses Haus habe ich 1996 mit „Les Misérables“ eröffnet. 1999 war ich das letzte Mal dort zur Dernière. Jetzt wieder in diesem Theater gewesen zu sein, war etwas Besonderes. Es war eine unglaubliche Flut an Erinnerungen, die auf mich einprasselte. Die Garderoben, die Kantine, all das kam mir sofort wieder vertraut vor. Duisburg war damals der Ort, an dem ich mein erstes großes Musical in Deutschland gespielt habe. „Les Misérables“ lässt mich bis heute nicht los. Aber es gibt viele solcher Momente. Wir waren auch in Köln und Stuttgart mit der Tour. Es ist fast so, als würde ich meine wichtigsten Stationen noch einmal durchleben.
Wer sich in deiner Vita auskennt, weiß natürlich, dass du Orte wie Duisburg, Köln und Stuttgart mit den Musicals „Les Misérables“, „We Will Rock You“, „Miss Saigon“ und „Tanz der Vampire“ verbindest. Sind diese Shows Highlights für dich?
Ja, definitiv. „Les Misérables“ hat einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen, weil es wie gesagt mein erstes großes Musical in Deutschland war. Aber auch „We Will Rock You“ in Köln und „Tanz der Vampire“ in Stuttgart haben mich nachhaltig geprägt. Jede Stadt, jede Produktion bringt eigene Erinnerungen mit sich. Es ist ein riesiges Karussell der Zeit, das sich da vor mir dreht. Außerdem habe ich dort, wo ich länger gespielt habe, auch eine besondere Verbindung aufgebaut. In Duisburg war ich zum Beispiel eineinhalb Jahre. Und denke ich an Duisburg, dann fällt mir auch Tecklenburg ein, wo ich 2006 den Thénardier in „Les Misérables“ gespielt habe.

So lange in deinem Beruf zu arbeiten, ist nicht selbstverständlich. Ein Ende scheint bei dir nicht in Sicht. Woran liegt das?
Ich denke, es liegt daran, dass ich noch immer mit großer Freude dabei bin. Solange das innere Feuer brennt, bleibe ich in meinem Beruf. Solange die Freude da ist, geht es weiter. Und ich weiß ja gar nicht, wie lange es noch gehen wird. Das kann sich im Schauspielberuf von heute auf morgen ändern. Interessanterweise gibt es für ältere Männer oft noch Rollen, aber die großen Produktionen setzen lieber auf jüngere Darsteller, denen man einen Bart anklebt. Erfahrung zählt heute nicht mehr so viel wie früher.
Was hat sich denn außerdem in den letzten drei Jahrzehnten im Musicalgeschäft verändert?
Im Musical gibt es keine großen Visionäre mehr. Früher gab es Produzenten wie Michael Brenner oder Joop van den Ende, die nicht nur mit Leidenschaft ins Geschäft gegangen sind, sondern auch wirklich für die Kunst gebrannt haben. Natürlich wollten sie auch Geld verdienen, aber sie hatten zusätzlich eine künstlerische Vision. Heute verwalten große Firmen nur noch das, was bereits gemacht wurde. Das finde ich schade. Im deutschsprachigen Raum fallen mir lediglich Christian Struppeck in Wien und Matthias Davids in Linz ein, die noch neue Projekte mit Herzblut auf die Beine stellen können und wollen. Aber sonst wird nur geschaut: Wo läuft ein Stück gut? Können wir es günstiger bekommen? Die Rechtevergabe ist komplizierter geworden, und für mich ist es unverständlich, wenn etwa ein Musical von Andrew Lloyd Webber mit nur sieben Musikern gespielt wird. Das gab es früher nicht. Als wir damals mit „Les Misérables“ anfingen, gab es eine große Diskussion, weil die Ticketpreise angehoben wurden. Heute zahlt man ein Vielfaches, obwohl weniger Personal im Einsatz ist – sei es auf der Bühne, im Orchester oder hinter den Kulissen. Die Gagen sind nicht mitgestiegen, eher das Gegenteil. Und was den respektvollen Umgang miteinander angeht – auch der hat sich verändert. Die Theaterwelt ist geschäftsorientierter geworden, und manchmal fehlt mir die gegenseitige Wertschätzung von früher.
Du hast mit Größen wie Harold Prince, Roman Polanski und Ben Elton gearbeitet. Gibt es jemanden, der dich besonders geprägt hat?
Jeder war auf seine Weise beeindruckend. Harold Prince war unglaublich. Ich habe mit ihm in Wien bei „Kuss der Spinnenfrau“ gearbeitet. Allerdings kam er erst fünf Tage vor der Premiere, und bis dahin hatte sein Resident Director Tom Stone das Stück einstudiert. Prince hat uns in kürzester Zeit in die richtige Richtung gelenkt. Roman Polanski wiederum arbeitete ganz anders, fast wie bei beim Film, mit einem starken Fokus auf Details. Ben Elton als Comedian war der Erste, der wirklich auf die Sprache geachtet hat. Er wollte wissen, ob die deutsche Übersetzung die gleiche Bedeutung wie das englische Original hat. Das war eine ganz neue Herangehensweise für mich.

Aktuell bist du mit „Die Schöne und das Biest“ auf Tour. Was reizt dich an dieser Produktion, die nicht mit dem gleichnamigen Disney-Stück zu verwechseln ist?
Es ist spannend, ein Stück zu spielen, das nicht von Disney ist, aber trotzdem seine eigene Magie entfaltet. Ich habe die Disney-Version vor fast 30 Jahren gesehen, und nun an einer anderen Interpretation mitzuarbeiten, ist etwas Besonderes. Das Team hat viel daran gearbeitet, die Geschichte frisch und spannend zu präsentieren, ohne den Kern des zugrundeliegenden Märchens zu verändern. Natürlich gibt es Zuschauer, die eine exakte Kopie der Disney-Version erwarten und enttäuscht sind, wenn sie etwas anderes bekommen. Aber die Geschichte von „Die Schöne und das Biest“ gibt es in unzähligen Varianten. Sie gehört nicht Disney, sondern basiert auf einem französischen Märchen. Disney macht das anders – dort würde ich als Vater wahrscheinlich auch noch ein Ensemble-Mitglied sein, das im Ballsaal aufräumt. In der Version von Martin Doepke hat die Rolle des Vaters aber mehr Substanz, ich habe hier wirklich gut zu tun.
Wie war die Zusammenarbeit mit Regisseur Alex Balga? Hattest du viel Freiheit in der Rollengestaltung?
Ich denke schon. Beim Casting hatte Alex eine genaue Vorstellung davon, wie die Charaktere wirken sollen. Wir haben dann sehr intensiv an Szenen und Übergängen gearbeitet. Besonders weil es in unserer Version neue Verschachtelungen gibt, mussten Choreografie und Staging exakt sitzen. In Zusammenarbeit mit Nathalie Holtom haben sie das wunderbar umgesetzt.
Wenn du 30 Jahre zurückdenkst, was würdest du deinem jüngeren Ich mit auf den Weg geben?
Ich würde ihm raten, das Ganze ruhiger anzugehen. Weniger von Job zu Job zu hetzen, mehr zu genießen. Ich habe viel gleichzeitig gemacht und hätte mir manchmal gewünscht, mehr Zeit für mich zu haben. Auch das soziale Netzwerk ist wichtig: Wenn man in einer Stadt bleibt, baut man Beziehungen auf, beruflich und privat. Aber wenn man ständig von Produktion zu Produktion wechselt, fehlt das oft. Ich würde meinem jüngeren Ich sagen, dass man nicht überall Freunde haben muss. Wirklich enge Freunde kann man an einer Hand abzählen, und das ist schon viel. Andererseits gibt es in diesem Job auch Verbindungen, die über Jahrzehnte halten. Man trifft Kollegen nach vielen Jahren wieder und knüpft sofort an die gemeinsamen Zeiten an. Solche Begegnungen sind das Besondere an diesem Beruf.
Interview: Dominik Lapp