Interview mit Sylvester Levay: „Wir entwickeln unsere Werke immer weiter“
Erst war er in der Pop- und Filmmusik zu Hause, doch seit den 1990er Jahren hat er sich dem Musicalgenre verschrieben: Sylvester Levay. Der ungarische Komponist, der in München lebt, schrieb gemeinsam mit dem Dramatiker Michael Kunze die Musicals „Hexen hexen“ (1991), „Elisabeth“ (1992), „Mozart!“ (1999), „Rebecca“ (2006) und „Marie Antoinette“ (2006). Im Juni 2012 feierte „Marie Antoinette“ in einer überarbeiteten Version Premiere bei den Freilichtspielen Tecklenburg. Über die Änderungen, aber auch über die bevorstehende Broadway-Premiere von „Rebecca“ und die Zusammenarbeit mit Michael Kunze spricht Sylvester Levay im Interview.
Auf der Premierenfeier in Tecklenburg sagte Intendant Radulf Beuleke, dass „Marie Antoinette“ wiedergeboren sei. Sehen Sie das genauso?
Ja. Aus Sicht von Michael Kunze und mir ist es so, weil wir für die Inszenierung in Tecklenburg das ganze Stück noch einmal überarbeitet, umgeschrieben, adaptiert und neue Lieder geschrieben haben. Wir haben auch die musikalische Dramaturgie verändert, die dem Stück ein neues Gesicht verleiht. Bei der Premiere in Tecklenburg hat uns das Publikum glücklicherweise bestätigt, dass die neue Version funktioniert und angenommen wird.
Warum war die Überarbeitung notwendig?
Die Originalversion von „Marie Antoinette“ haben Michael und ich im Auftrag der japanischen Toho Company geschrieben, weil dort ein Buch des Autors Endo existiert, auf dem unser Stück basiert. Endo war derjenige, der mit Margrid Arnaud die fiktive Gegenspielerin von Marie Antoinette erschaffen hat. Damit ist aus „Marie Antoinette“ nicht nur ein historisches, sondern ein romantisch-dramatisches Bühnenwerk geworden.
Unsere Urversion, die wir in Tokio auf die Bühne gebracht haben, war allerdings sehr lang, weil wir dem Publikum darin einiges erklären mussten. Michael und ich waren uns jedoch einig, dass wir die Königin Marie Antoinette dem Publikum in Europa nicht so detailliert erklären müssen, weil die Menschen hier mehr über diese historische Persönlichkeit wissen als es in Japan der Fall ist.
Aus diesem Grund haben wir das Stück schon in Bremen gewissermaßen komprimiert. Allerdings war damals die Zeit knapp und die Umstände erforderten es, dass wir nicht alles ändern konnten, was wir gern geändert hätten. Doch dieses Mal war die Zeit vorhanden, um „Marie Antoinette“ noch einmal zu überarbeiten und die Handlung zu komprimieren. An der Partitur und den drei neuen Liedern habe ich zum Beispiel drei Monate gearbeitet. Wir sind sehr glücklich, dass wir diesmal diese Zeit hatten.
Was interessiert Sie persönlich an der Königin Marie Antoinette?
Wie an allen Stoffen, die Michael und ich bearbeiten, interessieren mich das menschliche Drama und die Emotionen. Marie Antoinette ist für mich eine besondere Persönlichkeit, weil ihr Lebensdrama einen besonderen Tiefgang hat. Diesen Tiefgang hat sie ihrem Leben durch Fehlentscheidungen selber verliehen. Sie war eine verwöhnte österreichische Kaiserinnentochter, die als Jugendliche nach Frankreich verheiratet wurde. In so einem historischen Drama habe ich als Komponist die Möglichkeit, mich musikalisch ganz wunderbar auszutoben.
Würden Sie sagen, dass das Musical „Marie Antoinette“ Ihr komplexestes Werk ist? War es eine große Herausforderung, diesen Stoff musikalisch zu bearbeiten?
Ja, das war eine ganz besondere Herausforderung. Auch wenn ich von Anfang an den dramatischen Verlauf des Lebens Marie Antoinettes verfolgt habe, war mir Margrid immer sympathischer. Margrid wird im Verlauf der Handlung zur Heldin, während Marie in Gold und Diamanten hineingeboren wurde. Da war es für mich zunächst interessanter, die Entwicklung Margrids musikalisch zu begleiten. Aber je länger ich daran gearbeitet habe, desto mehr erkannte ich die Gemeinsamkeiten von Leben, Zufällen und Revolution. Ich erkannte die tief emotionalen Wege in Marie Antoinette, was mich dazu bewegte, die Revolution nicht nur sachlich-historisch zu behandeln. Letztendlich führen mehr Verbindungen im Stück zu Marie Antoinette als zu Margrid. Das war für mich eine sehr emotionale Arbeit, die ich nicht bestimmt habe, sondern die sich einfach so entwickelt hat.
Margrid Arnaud ist die eigentliche Hauptrolle, aber dennoch heißt das Stück „Marie Antoinette“?
Richtig. Es geht ja eigentlich auch um Marie Antoinette. Die Figur der Margrid ist eine Erfindung von Endo, der sie meiner Meinung nach erfunden hat, um einen Spiegel für Marie Antoinette zu erschaffen. So hat der Zuschauer die Möglichkeit, die Königin Marie Antoinette aus einem anderen Blickwinkel zu erleben. Wir können Geschichtsbücher aufschlagen und von den neuesten Erkenntnissen lesen. Das ist alles sehr spannend, aber meistens handelt es sich dabei um politische Facetten, die praktisch gar nicht auf den Menschen eingehen. Ich bin der Meinung, dass viel mehr menschliche Emotionen in die Französische Revolution involviert waren, als manche Historiker glauben. Ich behaupte das nicht, aber ich glaube es. Marie Antoinette war eine faszinierende Person, wenn man sie nicht nur als historische Person, sondern auch emotional betrachtet. Und diese emotionale Betrachtung der Königin wird durch Margrid möglich.
Und was ist mit König Ludwig XVI.?
Ich bin der Meinung, das war ein wunderbarer Mensch. Er wollte kein König sein, sondern wurde in diese Position hineingeboren. Durch Tollpatschigkeit hat er Fehler gemacht, die letztendlich zu einem Drama führten.
Michael Kunze und Ihnen soll viel daran gelegen haben, „Marie Antoinette“ nach Tecklenburg zu bringen. Warum?
Die Freilichtspiele Tecklenburg liegen uns beiden am Herzen. Michael noch länger als mir. Als es 2008 darum ging, dass „Mozart!“ nach Tecklenburg kommen sollte, hatte ich Michael gebeten, mir etwas über die Bühne zu erzählen. Denn er kannte sie damals schon, ich hingegen nicht. Michael hat mich damals davon überzeugt, dass Tecklenburg ein sehr wichtiger Ort für Freilichtaufführungen ist. Als wir dann „Mozart!“ gesehen haben, waren wir begeistert. Das war eine tolle Inszenierung, die der Regisseur Cusch Jung damals realisiert hat. Wir wussten also, dass es der richtige Schritt ist, auch „Marie Antoinette“ auf dieser Bühne zu zeigen.
Ist „Marie Antoinette“ in der Tecklenburger Fassung denn nun fertig? Kann es in dieser Form auch auf anderen Bühnen aufgeführt werden?
Man könnte mich genauso gut fragen, ob „Elisabeth“ nach 20 Jahren fertig ist. Und ich würde antworten: Vielleicht. Das kann und will ich auch für „Marie Antoinette“, „Mozart!“ und „Rebecca“ nicht beantworten. Wir entwickeln unsere Werke immer weiter. Für den Broadway schreiben wir zurzeit auch neue Dinge für „Rebecca“. Wir passen unsere Musicals je nach Situation an und suchen neue Wege. Wenn es – was ich sehr hoffe – weitere Inszenierungen von „Marie Antoinette“ geben wird, kann es sein, dass wir auch da wieder schauen werden, wo wir noch etwas ändern können. Solange wir es besser machen können, machen wir es auch.
Sie haben „Rebecca“ am Broadway angesprochen: Wird es auch dort Änderungen geben?
Ja, „Rebecca“ haben wir bereits überarbeitet. Ich befinde mich gerade in der Phase, in der ich die Orchestrierung den neuen Überarbeitungen anpasse. Das hat sich in den letzten sechs Jahren so ergeben. Denn die Broadway-Produzenten haben schon damals einen Vertrag unterschrieben, und seit diesem Tag arbeiten Michael und ich an dem Stück für den Broadway. Inzwischen haben wir eine Fassung, die sich unserer Meinung nach für den Broadway eignet. Wir haben einiges umgeschrieben, und es gibt auch einige neue Lieder.
Sie wohnen in München, Michael Kunze wohnt in Hamburg. Wie funktioniert die Zusammenarbeit bei dieser Entfernung?
Dazu muss ich etwas weiter zurückgehen. Michael und ich haben uns 1972 kennen gelernt, als wir beide noch in der Popmusikbranche tätig waren. Und schon damals hat sich gezeigt, dass unsere Kommunikation wunderbar funktioniert – manchmal auch, ohne dass wir miteinander sprechen müssen. Natürlich muss man auch mal zusammenkommen und miteinander arbeiten. Aber seit 40 Jahren sind wir so zusammengeschweißt, dass wir manchmal einen Satz beginnen und ihn nicht beenden, weil wir wissen, was der jeweils andere sagen will. Wir arbeiten natürlich zusammen. Das funktioniert aber auch über Telefon und Internet.
Liefert Michael Kunze Ihnen eigentlich seine Texte, zu denen Sie dann die Musik schreiben, oder ist es umgekehrt?
Generell – ich schätze mal zu 90 Prozent – ist es bei uns so, dass ich Michael die Musik liefere und er dazu den Text schreibt. Und er hat mir immer wieder versichert, dass das für ihn kein Problem ist und er den Text passend zur Musik schreiben kann. Wenn ich ein Lied komponiere, ist es allerdings sehr wichtig für mich, dass ich weiß, worum es in dem Lied gehen soll. Ich muss von Michael zumindest den Umriss und die Emotionen der Szene vorher wissen. Bei „Rebecca“ und „Marie Antoinette“ war es aber so, dass ich einige Lieder auch nach seinen Texten geschrieben habe. Die Inhalte dieser Lieder waren einfach so wichtig, dass ich diese Vorlage zum Komponieren brauchte. Es funktionieren also beide Wege bei uns, aber in der Regel schreibt Michael die Texte zu der Musik, die ich ihm liefere.
Michael Kunze hat bislang nicht nur mit Ihnen, sondern auch mit anderen Komponisten wie Jim Steinman („Tanz der Vampire“), Karel Svoboda („Dracula“) oder Dieter Falk („Die 10 Gebote“) zusammengearbeitet. Warum arbeiten Sie nicht auch mal mit einem anderen Librettisten?
Sie sind der Erste, der mich das so direkt fragt. Und deshalb sind Sie auch der Erste, dem ich diese Frage ganz direkt beantworte: Ich bin 67 Jahre alt und kenne Michael seit 40 Jahren, und ich habe es mir in meinem bisherigen Leben ganz einfach leisten können, mit keinem anderen Librettisten als Michael Kunze zusammenzuarbeiten.
Interview: Dominik Lapp