Titus Hoffmann (Foto: Katharina Karsunke)
  by

Interview mit Titus Hoffmann: „Du brauchst Persönlichkeiten mit Leidenschaft und Visionen“

Als man im Herbst 2013 nach der deutschsprachigen Erstaufführung von „Next to Normal“ scherzhaft davon sprach, sich in zehn Jahren zu einem Reunion-Konzert wiederzutreffen, wusste keiner der Beteiligten, welche unglaubliche Erfolgsgeschichte vor ihnen liegen würde. Schließlich war der Weg des Broadwayerfolgs, ausgezeichnet mit dem Pulitzer Preis und drei Tony Awards, zur deutschsprachigen Erstaufführung kein leichter. Zahlreiche Wiederaufnahmen, Gastspiele, sowie nachfolgende Produktionen später, kommt die Fürther Original-Cast tatsächlich zum Reunion-Konzert zusammen – und Titus Hoffmann, Übersetzer und Regisseur der deutschsprachigen Erstaufführung, nimmt am Interviewtisch mit unserer Redaktion Platz. Gemeinsam blicken wir auf einen (nostalgischen) Konzertabend voller Emotionen und auf ein Musical, an das sich aufgrund seiner schwierigen Thematik rund um eine amerikanische Familie, Bipolarität und Depressionen ursprünglich kein Theater so recht heranwagen wollte.

Vor genau zehn Jahren kam „Next to Normal“ zu seiner deutschsprachigen Erstaufführung nach Fürth und bescherte dem hiesigen Stadttheater einen Erfolg von nie dagewesenem Ausmaß. Wenn du jetzt an den Herbst 2013 zurückdenkst: Welche Erinnerung kommt dir als erstes in den Sinn?
Das sind viele Erinnerungen, ich kann es gar nicht auf einen Moment herunterbrechen. Natürlich war die allererste Preview besonders krass, als wir das erste Mal richtig vor Publikum spielten. Während der Proben steckt man so tief in dem Prozess und beschäftigt sich intensiv damit, dass man noch gar kein Gespür dafür hat, wie es tatsächlich nach außen wirkt. Auch aufgrund der Übersetzung habe ich mich ständig gefragt: „Stimmt das so, ist es verständlich?“ Und am Ende kommt man immer an diesen einen Punkt und denkt: „Oh Gott – Keiner wird es verstehen!“ Die Selbstkritik ist einfach riesig, alle waren wahnsinnig aufgeregt. Ich weiß noch, wie bei der ersten Preview nach der Pause die Nebelmaschine nicht ausging und der ganze zweite Akt im Nebel stattfand. (lacht) Und trotzdem war die Reaktion der Leute so emotional! Theater funktioniert ja schließlich erst ab dem Moment, wenn Publikum im Saal sitzt und dadurch diese Magie beginnt. Es ist eine gewisse Energie, die entsteht. Zu erleben, dass das funktioniert, und vor allem, was es mit den Menschen im Saal gemacht hat, war wirklich beeindruckend. Ich weiß noch, dass ich direkt nach der Vorstellung eine lange E-Mail an Tom Kitt und Brian Yorkey geschrieben habe, wie unglaublich dieses Werk, jetzt auf Deutsch, ankam und was es auch bei uns auf und hinter der Bühne bewirkte. Das war einfach so besonders, weil man während der Proben doch immer wieder zweifelt und unsicher ist. Im Nachhinein kann man sich das immer gar nicht vorstellen, weil es selbstverständlich ist, dass es funktioniert. Ähnlich wie bei den Uraufführungen von zum Beispiel „Heiße Zeiten“, „I am from Austria“ oder zuletzt „Scholl“ lagen die Nerven blank und der Druck und die Unsicherheit, ob ein Stück aufgeht und ankommt, ist immer enorm.

Für das Stadttheater Fürth war es eine komplett neue Situation: Ticketanfragen aus der ganzen Welt, eine völlig überfüllte Stage Door mit Fans, die auf die Cast warteten.
Ja, das war was. (lacht) Ich erinnere mich noch an den Tag, als wir das Bühnenbild planten und mit dem Bühnenbildner Stephan Prattes zur Bauprobe vor Ort schauten, wie wir das Ganze grob anlegen werden. Inzwischen sind viele der Techniker von damals in Rente und es ist ein ganz junges Team am Haus. Aber vor zehn Jahren waren alle doch leicht entsetzt mit dem, was wir vorhatten. Auch so nach dem Motto, was für ein komisches Stück, ich sei ja verrückt, das wird ein Totalflop und so weiter! Da kann ich immer nur dem damaligen Intendanten Werner Müller danken, der da stoisch durchgegangen ist und das mit mir durchstand. (lacht) Und am Ende ging das Konzept auf, gegen viele Widerstände.

Probenfoto „Next to Normal“ (Foto: Titus Hoffmann)

Wann kamst du erstmalig mit diesem Ausnahmestück in Berührung und wann war dir klar, dass wir so ein Musical thematisch wie musikalisch hierzulande brauchen? Beim Reunion-Konzert hast du erzählt, dass Dirk Johnston dabei eine entscheidende Rolle spielte? 
Ja, tatsächlich. Ich war vorher Resident Director von „The Producers“ in Wien, wir brachten die Produktion nach Berlin in den Admiralspalast, und danach brauchte ich erst mal eine Pause. So tauchte ich 2009 wieder in das Berliner Leben ein und ich erinnerte mich, wie mir ein Kollege von einem jungen Studenten im neuen, sehr talentierten Jahrgang der Universität der Künste Berlin erzählte. Zu diesem Zeitpunkt fand auch der Bundeswettbewerb Gesang statt, und der ganze Jahrgang nahm daran teil – bis auf den jungen Studenten. Er durfte nicht, da er Schotte war und keinen deutschen Pass besaß. Aber er würde ganz hervorragend singen und ich solle ihn mir doch einmal ansehen. So habe ich Dirk kennen gelernt. (lacht) Bei einer Premiere von Katharine Mehrling in der Bar Jeder Vernunft. Die Welt ist klein. Ich habe ihn singen gehört und fand ihn spannend. Er hat diese wahnsinnig leichte, kristallklare Tenorstimme und haute ohne Mühen ein hohes C raus, was, vor allem in dem jungen Alter, sehr selten ist. Er erzählte mir dann von einem Stück, das ihn begeisterte: „Next to Normal“. Ich hatte bislang davon überhaupt nichts mitbekommen, fand es aber immer spannend zu sehen, woran die Jugend interessiert ist. Quasi, wo geht es hin und was definiert die nächste Generation. Zu diesem Zeitpunkt hat sich auch die Berliner Schreibmaschine gegründet und ich habe damals einfach mal für „I am alive“ („Ich lebe“) und „There’s a World“ („Komm mit mir“) den deutschen Text formuliert. Wir haben es ausprobiert, Dirk hat es gesungen. Es gibt dazu sogar noch ein Video im Internet. Es waren nur wenige Minuten, trotzdem hat es beim Publikum für große Begeisterung gesorgt und sehr emotionale Reaktionen hervorgerufen. Ich dachte mir, da muss wohl etwas dran sein! Ich habe weiter recherchiert und mir das Stück genauer angeschaut. Zu dem Zeitpunkt lief es noch am Broadway, da war gar nicht daran zu denken, dass man da irgendwie rankommt. Es gewann den Pulitzer-Preis für das beste Drama und war für elf Tony Awards nominiert, wovon es „nur“ drei erhalten hat.

Aber für sehr wichtige Kategorien: Bester Score, beste Orchestrierung und beste Hauptdarstellerin.
Ja, beste Instrumentierung ist besonders spannend, denn es sind ja nur sechs Musiker, aber man denkt, man hört viel mehr. Es ist so geschickt arrangiert – wirklich, ganz wunderbar gemacht. Am Broadway spielte es bis 2011. Danach war auch die Frage, wie geht es weiter. Dazu muss man wissen, dass „Next to Normal“ eine Entstehungsgeschichte von über zehn Jahren in zahlreichen Workshops hatte. Da werden u.a. unter Aufsicht von Stephen Schwartz und großen Broadwayautoren Stücke entwickelt. Und in so einem Rahmen wurde „Next to Normal“ kreiert. Das heißt, das Stück ist unter Aufsicht der Topliga der Musical-Kreativen entstanden – natürlich sind Brian und Tom die Autoren, aber sie betonen immer auch die Einflüsse, die maßgeblich das Stück geformt haben – hervorzuheben wäre da zum Beispiel Michael Greif, der Originalregisseur, der u.a. auch „Rent“, „If/Then“ oder „Dear Evan Hansen“ inszenierte. Daher finde ich es schwierig, so sehr es mich auch freut, dass man sich jetzt an das Stück herantraut, wenn ab und an überambitionierte Dramaturgen oder Regisseure an deutschen Stadttheatern am Skript feilen oder herumschnippeln wollen. Dann hat man leider – ohne sich dessen bewusst zu sein – vieles einfach nicht verstanden. Dieses Werk ist schon sehr genau durchdacht und gut gebaut.

Stage Entertainment hat es 2012 in den Niederlanden versucht. So wie ich es mitbekommen habe, wurde auch dort noch mal extra dran herumgebastelt, man hat zusätzliche Witze eingebaut, damit es vermeintlich nicht ganz so schwer ist. Das hat nicht funktioniert. Der erwartete Erfolg blieb in dem Sinn aus, dass sich Stage Entertainment dagegen entschied, es nach Deutschland zu holen. Dann lagen die Rechte längere Zeit bei BB Promotion, aber leider hat keiner eine Vision entwickelt und gesehen, wie man es realisieren kann. Du brauchst Persönlichkeiten, die auch ein Risiko eingehen. Die eine Vision haben und nicht nur auf irgendwelche Statistiken schauen. Klar, das ist natürlich wichtig, gar keine Frage. Es ist ein Geschäft, und privatwirtschaftliche Firmen müssen sehr genau auf die Zahlen achten. Aber es ist doch erstaunlich, dass ein Stück mit dieser Thematik nicht in einem subventionierten deutschen Theater entwickelt wurde, sondern am kommerziell umstrittensten Markt der Welt, am Broadway. Es wird bei uns meistens auf Kassenfüller gesetzt, ob im subventionierten oder im kommerziellen Rahmen. Dass man mal ein schwieriges Musical macht oder auch experimentell etwas Neues zu entwickeln versucht, ist ganz selten. Obwohl wir den Luxus einer Subventionslandschaft haben, wie es sie sonst nirgends auf der Welt gibt. Doch leider hat es in unserem Genre den Effekt, dass dagegen gearbeitet wird und nicht dafür. Das ist wirklich ernüchternd.

Probenfoto „Next to Normal“ (Foto: Titus Hoffmann)

Was hat dich trotzdem immer weiter angetrieben? 
Als es in New York abgespielt war und ich mitbekam, dass es hierzulande Keinen wirklich interessierte und die Rechte längere Zeit verfügbar waren, habe ich mir überlegt, wie man es realisieren könnte. Auch stellte ich mir die Frage nach der Besetzung. Um mich herum hatten alle möglichen Leute alle möglichen Meinungen, so nach dem Motto: „Es gibt bei uns gar nicht die Menschen, die das spielen können!“ oder „Das ist nicht produzierbar auf Deutsch!“ Und so weiter. Was man sich alles angehört hat. Wenn ich an ein Theater oder einen Intendanten herantrete und Vorschläge bezüglich Stück und Besetzung mache, sind sie verständlicherweise erst mal ein bisschen erstaunt, weil sie es so nicht gewohnt sind. Normalerweise denkt sich ein Dramaturg etwas aus, holt sich einen Regisseur, der dann meistens wiederum mit dem Ensemble vom Haus arbeitet. Hier kam der Intendant des Fürther Stadttheaters, Werner Müller, ins Spiel, der sich als Ermöglicher empfunden hat – das war das Beste, was passieren konnte! Weil ich die Möglichkeit bekam, tatsächlich kompromisslos eine eigene Vision und nicht die eines Intendanten oder eines Dramaturgen umzusetzen. Anschließend hat es sich irgendwie verselbstständigt und die einzelnen Puzzleteile kamen zusammen. Man muss nur die Weichen stellen.

Anscheinend hatte die junge deutschsprachige Musicalwelt auf dieses Stück gewartet, denn auf sechs Rollen haben sich 2012 Hunderte von talentierten Darstellerinnen und Darstellern beworben. Wonach seid ihr bei der Zusammenstellung dieser deutschen Ur-Cast gegangen?
Als Pia Douwes davon Wind bekam, rief sie mich an mit den Worten: „Du machst ‚Next to Normal‘? Ich bin deine Diana!“ Die Idee mit ihr stand daher schon sehr früh im Raum, aber sie war damals in einem Exklusivvertrag der Stage Entertainment gebunden und es war nicht klar, ob sie rausgelassen wird. Und zwar 1,5 Jahre lang. Wir hatten die Castings abgeschlossen, und ich habe gesagt, wir besetzen zuerst die Mutter, denn von der Mutter ist der Rest der Besetzung abhängig. Alle anderen haben so lange warten müssen auf die Zusage, bis das mit ihr geklärt war. Hätten wir Pia nicht bekommen, hätte womöglich die ganze Besetzung anders ausgesehen.

Am wichtigsten war natürlich, dass sie als Figuren miteinander harmonieren. Alle mussten so gut zusammenpassen, dass es typgerecht und stimmlich spannend bleibt. Vom Klang her sind die Stimmen von Pia Douwes, Thomas Borchert/Felix Martin, Dirk Johnston, Sabrina Weckelin, Dominik Hees und Ramin Dustdar/Armin Kahl, wie ich finde, viel markanter als beim Broadway-Original. In New York waren es natürlich phänomenale Leute, auch auf dem Broadway-Castalbum zu hören, aber sie sind sich untereinander in ihrem Klang viel näher und in der Art und Weise, wie sie singen. Das ist bei uns sehr abgegrenzt definiert. Jeder hat seine eigene eindeutige Farbe. Bei Pia liegt diese Partie genau in ihrer Stimme, in ihrer ganzen Persönlichkeit. Dazu kommt die Tatsache, dass es jetzt keine prominente oder glamouröse Figur ist wie Kaiserin Elisabeth, die mit Depressionen zu kämpfen hat, sondern die Hausfrau und Familienmutter von nebenan. Ich fand es spannend, Pia nun aus einer ganz neuen Perspektive so „fast normal“ zu erleben, da sie meistens diese großen Frauen mit mondänen Kostümen und Auftritten gespielt hat. Ich weiß noch, als wir die ersten Fotos machten und ich sie quasi vorwarnte, dass wir mit den Aufnahmen sehr nah herangehen werden. Aber sie hatte überhaupt kein Problem damit, sie nahbarer, echter, realer und direkter zu zeigen.

Thomas Borchert und später auch Felix Martin konnte ich mir unglaublich gut als Dan vorstellen, der versucht, das Ganze irgendwie krampfhaft aufrechtzuhalten. Ramin Dustdar und auch Armin Kahl vermochten es perfekt, den beiden Ärzte-Rollen sehr feine Konturen und auch Humor zu verleihen ohne Ernsthaftigkeit und Tiefe vermissen zu lassen. Trotz des großen Interesses der jungen Generation an diesem Stück, war da ein riesiger Respekt vor den einzelnen Rollen. So viele hatten sich zur Audition angemeldet und dann kurzfristig wieder abgesagt, weil sie irgendwie Panik bekamen. Die Zusammenarbeit mit Christoph Wohlleben als Musikalischer Leiter war für mich ebenfalls neu, und natürlich hatte auch er eine sehr wichtige und starke Meinung. Wir mussten, gerade was die Besetzung anbelangt, erfolgreich zusammenfinden. Das hat dann am Ende sehr gut harmoniert, aber es war ein intensiver Prozess. Schließlich hatten wir auch nicht ewig Zeit. Es waren fünf Wochen insgesamt, um das Stück auf die Beine zu stellen. Hinzu kommt, dass prominente Menschen wie Thomas, Pia oder Sabrina eben auch viele Off-Termine hatten, die natürlich das Puzzle etwas komplizierter machten.

Titus Hoffmann (Foto: Katharina Karsunke)

Wie würdest du speziell die Zusammenarbeit mit Pia Douwes in dieser manisch-depressiven Rolle der Diana Goodman beschreiben? Wie habt ihr euch der Thematik genähert? Schließlich hat man hier Höhen- und Tiefflüge zugleich.
Ich muss sagen, Pia ist in der Zusammenarbeit super unkompliziert. Wirklich uneitel. Das hatte ich zuerst nicht erwartet. Eigentlich dachte ich, das wird eine riesige Herausforderung. (lacht) Ich kannte sie vorher nicht. Und ich weiß noch, wie ich am zweiten Tag auf die Probebühne im schönen alten Berliner Ballhaus Rixdorf kam, das doch noch etwas, na ja, sagen wir, staubig war (lacht) und auf einmal Pia Douwes vor mir stand und den Boden wischte. „Ich dachte, ich mache noch mal kurz sauber, bevor wir hier anfangen!“ Ich erzähl diese Geschichte immer gern. Pia ist so unprätentiös, sehr praktisch und immer bemüht, dass es allen gut geht. Man fragt sich wirklich, wie sie sich über all die Jahre ihre Karriere aufgebaut hat, mit ihrer Art, so ganz bescheiden, cool und, ja, einfach auf dem Boden geblieben in einem Berufsfeld, in dem sich sonst alle mit Ellenbogen vorwärtsschieben.

Bezogen auf Diana, habe ich tatsächlich eine ganz eigene Geschichte mit einer psychischen Erkrankung. In meiner Teenagerzeit hatte ich eine Austauschschülerin aus Frankreich bei mir zu Gast, die unter Schizophrenie litt. Dies war mir und meiner Familie nicht klar – und offensichtlich den Eltern in Frankreich auch nicht. Kurz bevor sie nach Frankreich zurückkehren sollte, nahm sie sich das Leben, mit 17 Jahren. Wir entdeckten im Nachhinein bei ihr im Nachttischchen ein Tagebuch, in dem sie als eine andere Person geschrieben hatte. Da wurde ich persönlich zum ersten Mal mit psychischen Erkrankungen konfrontiert. Früher war das Ganze noch ein viel größeres Tabuthema. Es hat lange gedauert, bis es in der Gesellschaft einigermaßen angekommen ist. Für mich war diese Erfahrung sehr nachdrücklich. Pia hat auch ihre Geschichte und eigene Erfahrungen mit Depressionen. Somit fanden wir beide zueinander. Viel recherchiert, viel darüber gelesen.

Aber auch wenn man keine Berührungspunkte mit psychischer Erkrankung hat, kann jeder Schwierigkeiten in Familienkonstellationen nachvollziehen. Familie ist immer auch Problemlösung. Das hat in den Probenprozessen bei Allen zu großen aufwühlenden Momenten geführt. Das heißt, der Probenprozess und die Annäherung an die Rollen und das Ausloten der Situationen, in denen sie sich im Stück wiederfinden, waren oft extrem emotional. Als das Stück dann im Ablauf auf Bühne spielte, fühlte es sich für alle Beteiligten plötzlich unerwartet technisch an. Ich erinnere mich noch, dass Pia sagte: „Oh Gott, die Leute werden mich fragen, wie es ist, die Rolle zu spielen, und ich kann dann nur sagen: Die Gabel kommt links, das Messer kommt rechts und so weiter!“ (lacht) Ja, wenn die Handlung fließend und auf Anschluss inszeniert ist, entwickelt die Show einen gewaltigen Sog für das Publikum. Da bleibt allerdings kaum mehr Zeit für die Schauspieler sehr viel selbst zu fühlen oder sich fallen zu lassen. Ich sage immer: „Am Ende interessiert es keinen, was ihr fühlt. Es ist schön, wenn Ihr etwas fühlt, aber nicht zwingend notwendig – es interessiert nur, was die Leute im Publikum fühlen und mitnehmen.“ Und das war Wahnsinn. Bei den Shows dachte man wirklich, die Zuschauer reißen vor Begeisterung die Stühle raus. Danach kam die Cast regelmäßig zu mir und fragte: „Was passiert hier?“ Sie waren so mit ihren Abläufen beschäftigt, dass sie diesen Sog, der nach außen entstanden ist, gar nicht nachvollziehen konnten.

Beim Reunion-Konzert, war es auf einmal ein bisschen wieder wie in den Proben: Die Cast hat alles plötzlich viel stärker gefühlt, weil alle miteinander auf der Bühne waren und somit auch die anderen sehen konnten. Pia zum Beispiel hatte bei der Reprise von „Richtig für dich“ immer einen Schnellumzug, und jetzt hat sie plötzlich Dominik und Sabrina erlebt. Die beiden haben wirklich eine unglaubliche Chemie miteinander. Es war sehr bewegend.

Peter Weck und Titus Hoffmann (Foto: Titus Hoffmann)

Glaubst du, dass der Erfolg von „Next to Normal“ auch anderen, unkonventionellen Stücken die Tür geöffnet hat? Wurde die deutschsprachige Musicalwelt dadurch erweitert und verfeinert?
Das ist schwer zu sagen. Ich glaube schon, dass natürlich immer Einflüsse gewissermaßen wirken, doch ob jetzt dadurch etwas direkt oder indirekt angestoßen wurde, ist wirklich schwierig zu sagen. Peter Weck, bekanntlich der Gründer der Vereinigten Bühnen Wien, war bei unserer Spielserie im Wiener Museumsquartier sehr angetan, gerade weil „Next to Normal“ so unkonventionell und neu ist. Am Stadttheater Fürth hat sich auf jeden Fall einiges verändert. Es gab vorher bereits Sondheim oder auch „The last five Years“ mit Frederike Haas und Alen Hodzovic, doch der Blick hat sich definitiv erweitert und die Aufmerksamkeit wurde riesig. Sie haben viele neue Musicals ausprobiert und produziert und sich darauf letztendlich auch ein bisschen spezialisiert.

Apropos Aufmerksamkeit: Zu dem Zeitpunkt vor zehn Jahren war es tatsächlich nicht üblich, dass man Youtube-Videos zu Theateraufführungen gepostet hat oder wie heutzutage für Social-Media alles mit filmt. In New York bekam ich mit, wie dies dort mehr und mehr praktiziert wurde, so dass ich auch hier während unserer Proben begann, alles zu dokumentieren. Das sorgte nicht nur für Begeisterung. (lacht) Alle waren immer irritiert: „Was machst du da? Muss das sein? Musst du jetzt schon wieder die Kamera rausholen?“ Aber ich dachte auch die ganze Zeit: „Wir müssen dafür sorgen, dass Publikum kommt auch mit unkonventionellen Methoden.“ Deshalb fing ich an, auf Facebook Videos von den Proben zu posten. Tagsüber haben wir geprobt und nachts habe ich die Videos geschnitten. Heute hat man unzählige Programme und Vorlagen, aber damals war es echt alles kleinste Handarbeit. Dann habe ich das finanziell gepusht. Dadurch konnte man die Reichweite und Zielgruppe definieren und parallel dazu sah ich, wie der Ticketverkauf hochging. Das war auch etwas, was das Haus hier – und letztendlich unsere Produktion- zu einem breiteren Bekanntheitsgrad geführt hat.

Reunion-Konzert von „Next to Normal“ (Foto: Agnes Wiener / Niklas Wagner)

Jetzt zu dir persönlich: Gibt es einen Moment einer Figur im Stück oder eine Stelle in einem Song, die dich ganz besonders mitfühlen lassen?
Ich finde natürlich das komplette Stück toll, ganz klar, aber mein Moment ist „Ich werde dich verlassen“, wenn Diana am Ende dasteht und sich verabschiedet. Letztendlich befreit, wenn man es so will. Befreit von der Situation, die sie krank macht.

Beim Reunion-Konzert habt ihr anklingen lassen, dass euch die Idee zum zehnjährigen Wiedersehen bereits 2013 nach der Premiere kam.
Ja, das haben wir damals scherzhaft nach der Premiere gesagt. Wiederaufnahmen, Gastspiele, da wusste ja noch keiner, was folgen würde. Und selbst die Wiederaufnahme hat dann zwei Jahre gedauert, weil das Theater hier sehr langfristige Planungen macht. Da kann man nicht einfach mal so sagen: „Wow, das war jetzt ein Erfolg, wir machen das einfach in ein paar Monaten noch mal!“ Und eigentlich war es auch wirklich so nicht geplant. Doch die Nachfrage war so wahnsinnig groß, und bis heute haben wir wie das Haus unendlich viele Nachrichten durch das Publikum erhalten, dass wir dachten, wir müssen es noch mal machen! Doch für die ganze Inszenierung benötigen wir mehr Probenzeit. Das war in dieser ganzen Disposition nicht möglich. Und dann haben wir diese Idee, die damals im Scherz gesagt wurde, 2022 wieder aufgegriffen. Auch, weil das Reunion-Konzert ein schöner Abschluss für den Intendanten Werner Müller ist. Er hat immer wieder gesagt, dass „Next to Normal“ mit der größte Erfolg war, den er in 33 Jahren Intendanz hier gesehen hat, von den Publikumsreaktionen ganz zu schweigen. Deshalb war das Konzert der perfekte Rahmen.

Kurz zusammengefasst für alle, die es nicht zum Reunion-Konzert geschafft haben: Was konnte das Publikum erwarten?
Es ist fast „Next to Normal“. (lacht) Es ist nicht die Inszenierung, es ist eine konzertante Aufführung oder, wenn man es so will, ein Konzert. Es sind Kürzungen im Stück, und ich unterbreche das zwischendurch, stelle die einzelnen Darsteller vor, wir erzählen persönliche Geschichten und ich baue Brücken zur Handlung, damit man es auch versteht und nachvollziehen kann, wenn man das Stück nicht gesehen hat. Aber es ist natürlich nicht die Inszenierung, wie sie ursprünglich war. Man bekommt etwas anderes. Ich habe auch gehört, dass viele Menschen es als sehr viel emotionaler empfunden haben, weil eben jetzt alle Darsteller auf der Bühne sitzen und man sich somit mehr auf den Text einlassen und diesen mitfühlen kann. Für uns war es ja auch ein Experiment. Eigentlich singen wir das Musical wie bei einer Orchestersitzprobe durch, dazwischen wird es ein wenig unterbrochen, miteinander gequatscht und durch die Handlung weitererzählt. Das Feedback hat mir zumindest gezeigt, dass die Leute diese Verbindung von persönlichen Geschichten mit dem Stückinhalt sehr schön fanden.

Tom Kitt und Titus Hoffmann (Foto: Titus Hoffmann)

Wie stolz bist du auf die Erfolgsgeschichte von „Next to Normal“ und die weiteren Nachfolgeinszenierungen? Gerade, weil du es damals gegen alle Widerstände mit deinem Team auf den Weg gebracht hast?
Zuerst muss ich mal eine Lanze brechen für mein Team, Christoph Wohlleben und die fantastische N2N-Band, unsere phänomenale Cast, Stephan Prattes, Melissa King, Daniel Selinger und die fantastischen Mitarbeiter vom Stadttheater Fürth und insbesondere für meinen Regieassistenten Timo Melzer. Der steht immer ein bisschen im Schatten, dabei trägt er so viel zu dem Ganzen bei. Er kennt das komplette Stück in- und auswendig, und wenn jemand ausfällt, fängt er es bei den Proben auf. Er kann einfach alles singen, hat alles auf dem Schirm und hält das Gerüst zusammen. Eine großartige Stütze.

Die Erfolgsgeschichte des Stücks insgesamt ist einfach nur ein Geschenk. Ich bin immer froh um gelungene nachfolgende Inszenierungen. Ich freue mich immer, wenn es richtig gut gemacht wird. Es ist der Wahnsinn, dass das Stück so eine Popularität erreicht hat. Es ist so verrückt, wenn ich sehe, dass die Leute aus der ganzen Welt kommen! Wir hatten Ticketanfragen aus Japan, China, Australien, St. Petersburg, Neuseeland. Bei der Reunion standen erneut Fans aus Shanghai, Japan und Taiwan am Bühneneingang – sogar die Diana-Darstellerin, Fu Zhu/Fiona, der chinesischen „Next to Normal“-Produktion kam extra aus Shanghai zu unserem Konzert angereist. Unfassbar!

Auch, dass sich Tom Kitt zu unserem Reunion-Konzert per Videobotschaft gemeldet hat oder mir Brian Yorkey eine Nachricht schrieb, freut mich ungemein. Mit beiden bin ich in gutem Kontakt, und auch für sie ist es toll zu sehen, welche Reise ihr Stück macht, von dem man zunächst noch ausging, dass es eine sehr amerikanische Geschichte sei, die möglicherweise woanders gar nicht funktionieren würde. Ich weiß noch, wie ich damals das Gespräch über das deutsche Album führte und die Frage klärte, ob wir es überhaupt umsetzen können. Brian war völlig fasziniert, dies alles auf Deutsch zu hören! Wir sind gemeinsam durch die deutschen Texte gegangen und sie haben sich mit Ideen und Vorschlägen eingebracht oder waren ausgesprochen begeistert von deutschen Varianten wie „Superboy und seine Schwester aus Glas“. Ja, daher fiebern alle mit, bis heute! Ich wurde interessanterweise auch von drei verschiedenen amerikanischen Universitätsprofessoren bezüglich Doktorarbeiten zur deutschen Übersetzung von „Next to Normal“ kontaktiert. Das erscheint alles im Rückblick irgendwie verrückt, weil es wirklich ein harter Weg war mit vielen Hindernissen und kaum jemand an dieses Musical hierzulande glaubte. In den vergangenen zehn Jahren seit der deutschsprachigen Erstaufführung gab es im deutschsprachigen Raum 17 professionelle Neuinszenierungen und 13 Amateurproduktionen von „Next to Normal“ in deutscher Sprache. Also insgesamt 30 Goodman-Familien, Henrys, Dr. Fines und Dr. Maddens. Das ist für ein neues Musical und dann noch mit so einem Thema sehr beachtlich. Das Ziel, dieses außergewöhnliche Stück in deutschen Spielplänen zu etablieren, kann ich zufrieden als gelungen bezeichnen.

Interview: Katharina Karsunke

Avatar-Foto

Katharina Karsunke ist Sozial- und Theaterpädagogin, hat jahrelang Theater gespielt, aber auch Kindertheaterstücke geschrieben und inszeniert. Ihre Liebe fürs Theater und ihre Leidenschaft fürs Schreiben kombiniert sie bei kulturfeder.de als Autorin.