Persönliches vom Chefredakteur: Meine Bühnenhöhepunkte 2017
Ich bin zu viel unterwegs. Klar, in meinem Job reist man viel, sieht sehr viel. Aber ich versuche auch, Job und Familie so gut wie möglich unter einen Hut zu bekommen. Dennoch habe ich im vergangenen Jahr ganze 37 Produktionen gesehen, darunter Musicals, Opern, Sprechtheaterstücke und Konzerte. Da waren Glanzstücke genauso wie wirklich schlechte Sachen dabei. Und auch viel Mittelmaß. Doch ein Drittel aller von mir besuchten Veranstaltungen im Jahr 2017 waren für mein Empfinden echte Bühnenhöhepunkte, auf die ich an dieser Stelle in meinem Jahresrückblick noch einmal eingehen möchte.
Das Jahr begann für mich mit einigen guten Events – und im wahrsten Sinne des Wortes mit einem Paukenschlag, als ich im Januar das Konzert „The Music of John Williams“ in Hannover besuchte. In einer Zeit, in der unsere Ohren immer öfter mit synthetischer Musik beschallt werden, immer mehr Instrumente in Orchestern durch Keyboards und Computer ersetzt werden und einige Musiktheaterproduktionen gänzlich auf Livemusik verzichten und stattdessen nur noch auf Konserve setzen, glich es schon einer erholsamen Wellnessreise, ein rund 70-köpfiges Orchester live zu erleben. Ganz besonders, wenn die Musiker so grenzenlos fantastische Musik wie die von John Williams spielten.
Nur fünf Tage später saß ich wie beflügelt in Heilbronn im Theater und sah ein Musical, das unglaublich emotional, berührend und mitreißend war und der Frage nachging: Was ist Fantasie, was ist Wirklichkeit? Im Musical „Big Fish“ ist das nicht immer ganz klar, weil zwei Welten – jede ebenso farbig wie vielseitig – aufeinandertreffen, ineinanderfließen. Was die Bayerische Theaterakademie August Everding mit der europäischen Erstaufführung dieses Stücks auf die Beine gestellt hatte, darf wahrlich als Geniestreich bezeichnet werden. Nachdem die gelungene Inszenierung von Andreas Gergen erst in München und Ludwigsburg aufgeführt wurde, gastierte es anschließend in Heilbronn und war für mich der erste richtig große Höhepunkt im noch jungen Jahr 2017.
Im Februar waren es die Studenten der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover, die mich total abholten mit ihrer Aufführung der Mozart-Oper „Die Zauberflöte“. Ich liebe es generell, die Produktionen der Hochschule zu besuchen, weil man immer junge Nachwuchstalente erlebt, was eine willkommene Abwechslung darstellt zu dem, was einem sonst so auf der Opernbühne geboten wird. Bei der „Zauberflöte“ kam hinzu, dass diese Oper von Matthias Remus sehr intelligent inszeniert wurde und das 40-köpfige Orchester unter der Leitung von Martin Brauß mit den rund 80 Sängern auf der Bühne einen musikalischen Hochgenuss boten.
Auch ein Sprechtheaterstück konnte mich in Hannover begeistern. Am dortigen Schauspielhaus sah ich noch im selben Monat „Lehman Brothers“, ein modernes Theaterstück von Stefano Massini, in dem der Aufstieg und Niedergang der gleichnamigen Dynastie erzählt wurde. Ein Geniestreich von Regisseur Florian Fiedler, der eine sehr stimmige und temporeiche Inszenierung entwickelt hatte, die mich von der ersten Sekunde an packte.
Auf den März mit eher mittelmäßigen Produktionen folgte der April mit dem Tryout des Musicals „Goethe! Auf Liebe und Tod“ in Essen und ein weiterer Höhepunkt für mich. Kaum zu glauben, dass dem Stück drohte, für immer in der Schublade der Autoren zu bleiben. Selten hat man ein Musical gesehen, das von Anfang an solch ein Tempo aufbaut und zwei Stunden konstant halten kann, wie es hier der Fall war. Die gefällige Musik von Martin Lingnau legte sich wie ein Filmsoundtrack über Handlung und Figuren und ließ alles zu einer herrlichen Einheit verschmelzen. Dieses Stück muss unbedingt wieder auf eine Bühne!
Ende April sah ich in Berlin Disneys „Der Glöckner von Notre Dame“ und war begeistert von der neuen Version, da mich die Urfassung von 1999 damals – abgesehen von der Musik – nicht wirklich erreichen konnte. Die Überarbeitungen haben dem Musical letztendlich sehr gutgetan und lassen das Stück düsterer und ernster erscheinen als die Urfassung oder den Disney-Film. Angesichts des pompösen Bühnenbilds, der überwältigenden Musik, der traumhaften Cast und der dramatischen Geschichte darf das Stück ohne Frage als Meisterwerk bezeichnet werden, das viel zu lange von der Bühne verschwunden war.
Weil ich den Film „Match Point“ von Woody Allen großartig finde, musste ich natürlich das darauf basierende Sprechtheaterstück im Theater Münster sehen. Und ich wurde im Mai nicht enttäuscht. Neben den fantastischen Schauspielern waren es die vielen auditiven Kleinigkeiten, die mit der Inszenierung, dem Licht, der Ausstattung und der Musik verschmolzen, so dass ich eine äußerst starke Bühnenadaption zu sehen bekam.
Ein Musical, das ich liebe, seit ich es im Jahr 2008 zum ersten Mal in London gesehen habe, ist „Billy Elliot“. Im Sommer machte die UK-Tour dieses Ausnahmestücks tatsächlich für vier Wochen in Hamburg Halt und ich durfte dabei sein. In dem Stück wird der kleine Billy gefragt, was er fühlt, wenn er tanzt. „I can’t really explain it, I haven’t got the words“, antwortet er und hätte damit keine treffendere Zusammenfassung für das Musical „Billy Elliot“ liefern können. Denn das Stück ist so atemberaubend-emotional, dass einem wahrlich die Worte dafür fehlen und man sich nach dem Schlussvorhang erst einmal sammeln und das Gesehene sacken lassen muss. Bedauerlich, dass dieses grandiose Stück nur kurze Zeit in Hamburg zu sehen war. Danach war die Musicalszene in der Hansestadt nämlich wieder um einiges ärmer.
Im Juli folgte mit Stefan Hubers Neuinszenierung von „Titanic“ in Bad Hersfeld ein weiterer Glanzpunkt auf meiner Liste der Jahreshöhepunkte. Der Mut, dieses selten gespielte Juwel endlich wieder auf eine deutsche Bühne zu bringen, hat sich definitiv bezahlt gemacht, was auch die Auslastungszahlen belegten. Kein Wunder also, dass das Stück im Sommer 2018 erneut in Bad Hersfeld zu sehen sein wird. Bei „Titanic“ in der Stiftsruine griffen Story, Musik, Inszenierung und darstellerische Leistungen so homogen perfekt ineinander, dass ich unglaublich berührt und begeistert aus der Vorstellung kam.
Genauso begeistert war ich von „Rebecca“ in Tecklenburg. Generell darf man wohl sagen, dass Regisseur Andreas Gergen „Rebecca“ nahezu neu erfunden hat und seine Inszenierung durchaus sehenswerter war als die Produktionen in Stuttgart oder Wien. Er legte nicht nur eine hervorragende Personenregie an den Tag, sondern bewies auch ein exzellentes inszenatorisches Verständnis. Sehen und vor allem hören lassen konnten sich zudem die Solisten und das 28-köpfige Orchester. Sylvester Levays groß orchestrierte Musik von solch einem großen, tadellos spielenden Orchester hören zu dürfen, war schlichtweg atemberaubend.
Einen Hype, den ich nie verstehen konnte, war der um das Musical „Ludwig²“ in Füssen – bis ich das Stück im August letzten Jahres endlich selber sah. Doch so perfekt „Ludwig²“ auch ist, einen Wermutstropfen gab es leider für mich: Angesichts der Professionalität der Produktion, der prominenten Besetzung und der Eintrittspreisgestaltung erschien es mir nahezu inakzeptabel, dass sowohl Musik als auch Chorgesang lediglich aus der Konserve kamen und nicht live waren. Das trübte das ansonsten sehr positive Gesamtbild, vor allem weil das Komponistentrio Christopher Franke, Nic Raine und Konstantin Wecker großartige Melodien geschrieben hat, die wunderbar ins Ohr gehen und die Handlung perfekt transportieren.
Im September sah ich weitere Produktionen – die eine besser, die andere schlechter. Für mich waren aber keine Highlights dabei. Im Oktober besuchte ich gar keine Veranstaltungen, was damit zusammenhing, dass ich in dem Monat selber wieder einmal als Regisseur tätig war. Meine Inszenierung des Pop-Oratoriums „Luther“ hatte am 4. November vor rund 3.000 Zuschauern in der EmslandArena in Lingen Premiere.
Mitte November hatte ich dann den Kopf frei, um mich wieder als Zuschauer auf Produktionen einzulassen. Und mein Weg führte mich ins Hamburger Schmidtchen, wo ich Carolin Fortenbachers starkes Konzertprogramm „Fortenbacher singt Streisand“ genießen durfte. Mit Hingabe warf sich die Sängerin in die Songs von Barbra Streisand. Da wurde nichts abgespult, nichts heruntergesungen. Im Gegenteil: Fortenbacher interpretierte, sie lebte, sie liebte, sie litt und nahm mich mit auf eine emotionale Reise. Auch 2018 ist „Fortenbacher singt Streisand“ in Hamburg zu erleben – aufgrund der großen Nachfrage jetzt aber nicht mehr im Schmidtchen, sondern nebenan im Schmidt Theater, das wesentlich mehr Sitzplätze bietet.
Es folgten weitere Theaterbesuche und ich dachte, dass bis zum Jahresende eigentlich nichts mehr dabei ist, was mich umhauen könnte. Doch dann besuchte ich relativ spontan, weil ich sowieso gerade in Hamburg war, eine Preview des Musicals „Kinky Boots“ und wurde eines Besseren belehrt. Ich ging ohne Erwartungen in die Vorstellung und dachte eigentlich, ein weiteres von zahlreichen Jukebox-Musicals zu sehen. Schließlich stammt die Musik von Cyndi Lauper. Doch zu hören bekam ich nicht etwa ihre größten Hits, sondern neue Musik, die sie eigens für das Stück geschrieben hat und die echt gut klingt. Dazu sah ich eine authentische und berührende Geschichte – das hatte ich so gar nicht erwartet.
Text: Dominik Lapp