
Kritisch betrachtet: Warum Sperrfristen in der Musical-Berichterstattung unsinnig sind
Sperrfristen sind im Journalismus nichts Ungewöhnliches – in der Politik oder Wirtschaft haben sie durchaus ihre Berechtigung, wenn es um komplexe Informationen geht, die eine fundierte Einordnung erfordern. Man versorgt die Presse also schon vorab mit Infos, damit den Journalistinnen und Journalisten genug Zeit zur Aufarbeitung und Recherche bleibt und Printmedien gegenüber Onlinemedien nicht benachteiligt werden. Im Musicalbereich hingegen wirken Sperrfristen wie ein Anachronismus, ein Relikt aus Zeiten, in denen Printmedien das Informationsmonopol hatten. Heute, in einer Welt von Social Media und Onlinejournalismus, sind sie schlichtweg überholt und in der Praxis oft nicht nur unsinnig, sondern auch kontraproduktiv.
Nehmen wir die Premiere von „Hercules“ in Hamburg im März 2024 als Beispiel: Disney-Blogger und Influencer durften bereits die erste Preview mit großem Abstand zur Presse besuchen und sofort berichten. Das ist kein Zufall, sondern Kalkül. Man setzt bewusst auf Claqeure, also (unkritische) Fans, die das Stück in den sozialen Medien feiern, bevor die Presse die Gelegenheit bekommt, eine (differenziertere) Bewertung abzugeben. Es drängt sich der Eindruck auf, dass Veranstalter die Berichterstattung lieber in vorgefertigte Bahnen lenken, als sich der offenen Diskussion zu stellen. Das ist nicht nur im Hinblick auf die Meinungs- und Pressefreiheit fragwürdig, sondern auch eine Strategie, die auf lange Sicht das Vertrauen in das eigene Produkt untergräbt.
Noch absurder wird es, wenn Musicalproduzenten ihre eigenen Geheimnisse zu solchen erklären, die längst keine mehr sind. So geschehen im März 2025 bei der Ankündigung von „Mrs. Doubtfire“ im Capitol Theater Düsseldorf: Die Einladung von ATG Entertainment zu einer Pressekonferenz, zu der 14 Tage vorher eingeladen wurde, war mit dem Vermerk versehen, die Informationen seien streng vertraulich und eine Berichterstattung sei erst ab Beginn des Pressetermins möglich – dabei waren die Auditions bereits öffentlich ausgeschrieben und hatten längst stattgefunden. Zwar war die nordrhein-westfälische Landeshauptstadt als Aufführungsort noch nicht offiziell bekannt gegeben worden, aber wer die Standorte kennt, an denen der Veranstalter Theater unterhält, konnte leicht eins und eins zusammenzählen: Düsseldorf bot das einzige freie Haus und war deshalb in Branchen- und Fankreisen längst als Spielort für „Mrs. Doubtfire“ gesetzt. Welchen Zweck eine solche Geheimniskrämerei haben soll, bleibt schleierhaft.
Fakt ist: Sperrfristen sind in der Regel gar nicht rechtlich bindend, weshalb auch der Pressekodex seit 2006 nicht mehr vorschreibt, sie einzuhalten. Lediglich eine vertragliche Vereinbarung kann eine Ausnahme darstellen. Wer sich nicht an eine freiwillige Sperrfrist hält, riskiert jedoch die Zusammenarbeit mit dem Veranstalter oder Theater. Wer aber gar nicht erst die Premiereneinladung abwartet, sondern mit gekaufter Karte eine Preview besucht, unterliegt ohnehin keiner Sperrfrist. Denn alle Zuschauerinnen und Zuschauer einer Preview haben dank der Meinungsfreiheit die Möglichkeit, ihre Eindrücke direkt nach dem Besuch kundzutun. In den sozialen Medien und Internetforen kann man nicht ohne Grund schon während der gesamten Preview-Phase eines Musicals erste Erfahrungsberichte lesen.
Am Ende sollte es bei Medienberichterstattung um Qualität gehen, nicht um Kontrolle. Wer ein großartiges Musical auf die Bühne bringt, muss sich vor Kritik nicht fürchten. Wer es aber nötig hat, die Presse erst dann zu Wort kommen zu lassen, wenn es in den Marketingplan passt und die Werbemaschinerie längst auf Hochtouren läuft, sendet damit nur ein Signal – dass man seinem eigenen Produkt nicht traut. Ein Problem heutzutage ist nämlich, dass Veranstalter und Theater die Medienberichterstattung als Teil ihres Marketingplans sehen. Das ist aber auch kein Wunder, denn der Großteil von dem, was insbesondere über Musicals publiziert wird, ist im Grunde auch nichts anderes als die ungefilterte Wiedergabe von PR-Superlativen. So hat sich auch der unsägliche Begriff der Welturaufführung in die Berichterstattung (und mittlerweile sogar in den Duden) eingeschlichen, obwohl es sich um einen Pleonasmus – eine doppelte Ausdrucksweise – handelt. Aber das ist ein anderes Thema.
Text: Dominik Lapp