Atemberaubend-emotional: „Billy Elliot“ in Hamburg
Es ist wohl das atemberaubend-emotionalste Musical, das je in der Hansestadt zu sehen war: Die UK-Tour von „Billy Elliot“ macht für vier Wochen Halt in Hamburg und überzeugt mit einer Qualität auf allen Ebenen, die man in deutschen Musicalproduktionen so eher selten zu sehen bekommt – insbesondere stark ausgebildete, absolut professionell und authentisch agierende Kinderdarsteller.
Die in Hamburg zu sehende Tourneeversion entspricht fast eins-zu-eins der Londoner Fassung, nur minimale Änderungen gibt es, die jedoch nicht weiter ins Gewicht fallen. So beginnt das Stück nicht mehr mit einer Videoeinspielung, sondern mit dem Fetzen einer Radiosendung. Das Bühnenbild von Ian MacNeil wirkt etwas niedriger als im Original und die Küchenzeile der Familie Elliot mit Billys Zimmer kommt baubedingt nicht mehr aus dem Boden, sondern von der rechten Seitenbühne gefahren. Außerdem ist die Auditionszene im zweiten Akt etwas verändert und gekürzt worden, was für Erstbesucher aber ohnehin ohne Bedeutung ist und auch für Wiederholungstäter den Genuss nicht trüben dürfte – viel zu stark sind die Show und und ihre Darsteller.
Allen voran ist es in der besuchten Vorstellung Lewis Smallman in der Titelrolle (vier Jungs teilen sich die Rolle), der das Publikum mehrfach zu Begeisterungsstürmen hinreißt. Sein Gesang ist glasklar und berührend, sein Schauspiel stark und authentisch, seine tänzerischen und athletischen Fähigkeiten wirklich atemberaubend. Smallman tanzt so kraftvoll, ist so voller Ausdruck und Emotionen – selten hat man ein Kind in solch einer Form auf einer Bühne gesehen. Großartig!
Ihm in nichts nach steht Bradley Mayfield, der Billys Freund Michael überzeugend als kleinen Freiheitskämpfer gibt. Herrlich, wie sich beide in Frauenklamotten werfen und eine starke Steppnummer zum Titel „Expressing yourself“ geben, für die sie vom Publikum völlig zu recht gefeiert werden. Und wenn Michael Billy am Ende gen London zur Royal Ballet School ziehen lässt, rührt ihr Abschied zu Tränen.
Martin Walsh ist als Dad ein wunderbar grober Klotz, der mit Schimpfwörtern nicht spart und dennoch sein Herz am rechten Fleck hat. Bei ihm und auch allen anderen erwachsenen Darstellern fällt auf, dass diese UK-Tour echte Typen, echte Charaktere zu bieten hat. Allesamt also starke Künstler, die nicht bloß Rollen spielen, sondern denen man ihre Rollen total abkauft. Walsh ist als Dad einerseits der Grobian, der seinen Sohn zum Boxen schickt – der stattdessen aber zum Ballett geht – und für die Rechte der streikenden Minenarbeiter kämpft, andererseits aber auch ein treusorgender Familienvater, der sich mit zwei Söhnen und der Grandma durchschlägt, nachdem seine Frau starb. Wenn er schließlich ins Grübeln kommt und sich ernsthaft damit auseinandersetzt, seinen Sohn auf die Royal Ballet School zu schicken, berührt Martin Walsh als Dad besonders.
Als Billys Bruder Tony ist Scott Garnham zu sehen, der ebenfalls mit starkem schauspielerischen Können auftrumpfen kann. Fantastisch gelingt ihm die Szene, in der er der Ballettlehrerin Mrs. Wilkinson verbietet, seinen Bruder zu unterrichten. Das Zusammenspiel zwischen ihm und Anna-Jane Casey ist dabei großartig. Letzterer gelingt eine große emotionale Darstellung der Mrs. Wilkinson, die sich zu einer Ersatzmutter für Billy entwickelt und das tänzerische Talent in dem Jungen früh erkennt und fördert. Anna-Jane Casey gelingt es, ihre Rolle sehr stark zu zeichnen und zu entwickeln. Dabei schöpft sie alle Möglichkeiten perfekt aus und kann so nicht nur schauspielerisch glänzen, sondern auch gesanglich und tänzerisch.
In recht kleinen Rollen sind Daniel Page als Mr. Braithwaite und Andrea Miller als Grandma zu sehen, die aber beide mit solch einer Hingabe agieren, dass sie positiv im Gedächtnis bleiben. Bei Daniel Page sind es besonders die komödiantischen Szenen, die er voll und ganz für sich zu nutzen weiß. Andrea Miller hingegen zeigt sich als wahre Rockoma – frech, laut und immer mit einem flotten Spruch auf den Lippen. Für ihren „Grandma’s Song“ wird sie zu recht bejubelt. Nur kurze aber nicht minder berührende Auftritte hat zudem Nikki Gerrard als Billys tote Mum.
Doch was ist es neben dieser fantastischen Cast, was „Billy Elliot“ ausmacht? Sicherlich ist es die gelungene Mischung aus emotionalen und witzigen Momenten, die sich ganz wunderbar die Waage halten. Und es ist eine Story mitten aus dem Leben, die – obwohl das Stück 1984/1985 spielt – noch immer topaktuell ist.
Es gibt viele interessante Charaktere, in die man sich hineinversetzen, mit ihnen lieben und leiden kann. Da ist zum Beispiel Billys viel zu früh verstorbene Mutter, das angespannten Verhältnis zwischen dem Jungen und seinem Dad, die knappe Kasse, weil sich der Vater, ein Minenarbeiter, im Streik befindet. Eine klassische Familiengeschichte eben, aus der wahrscheinlich jeder Zuschauer irgendwelche Parallelen ziehen kann – sei es aus dem eigenen oder dem näheren Umfeld.
Aber da sind auch die Träume, die gelebt werden. Da ist einerseits der kleine Billy, der nicht boxen, sondern tanzen möchte und andererseits Mrs. Wilkinson, die in Billy ein großes Talent erkennt und ihm den Weg ebnen möchte, der ihr selbst verwehrt blieb. Da sind die Hoffnungen der Minenarbeiter auf eine bessere Zukunft, aber auch die Großmutter, die sich auf der Suche nach ihrer verlegten Pastete daran erinnern kann, dass sie noch ein Würstchen im Schlafrock auf der Treppe hat.
„Billy Elliot“ erzählt auf ganz wunderbare Art eine Geschichte vom Kämpfen und Standhalten und erinnert uns daran, dass wir im Leben nicht für das Beginnen, sondern für das Durchhalten belohnt werden, dass wir unser Leben nicht träumen, sondern unsere Träume leben sollten. Diese Geschichte zeigt, dass wir alle unseren Weg entgegen aller Widrigkeiten gehen sollten und auch anders sein dürfen, keiner Norm entsprechen, nicht den Ansprüchen Dritter genügen müssen. Und sie zeigt, dass man sich frei von Vorurteilen machen sollte und dass der Rückhalt der Familie ein unersetzbares Gut ist.
Regisseur Stephen Daldry, der schon beim Film Regie führte, hat es wohl wie kein anderer verstanden, all das mit seiner Cast zu erarbeiten. Ihm ist es gelungen, die Charaktere stark zu zeichnen, dabei niemals zu überzeichnen und die Story auf allerhöchstem Niveau zu erzählen. Einen großen Anteil an dem bedeutenden Erfolg der Inszenierung hat aber auch Peter Darling, der unbeschreiblich komplex verstrebte, emotionale und dynamische Choreografien geschaffen hat, so dass Nummern wie „Solidarity“, „Electricity“ oder die Schwanensee-Sequenz einem allein aufgrund der wunderschönen Choreografie die Tränen in die Augen treiben.
Für die Musik zeichnet kein Geringerer als Weltstar Elton John verantwortlich, dem es exzellent gelungen ist, all die Stimmungen, Emotionen und die Atmosphäre musikalisch einzufangen und zu transportieren. Für „Billy Elliot“ hat John einwandfreie Theatermusik geschrieben, die dem Stück vollends gerecht wird. Hier folgt nicht – anders als bei seiner „Aida“ – Popballade auf Up-Tempo-Nummer, hier wird sich nicht von Hit zu Hit gehangelt.
Was bei „Billy Elliot“ zu Gehör kommt, sind der Geschichte dienende, die Charaktere entwickelnde, die Szenen transportierende Musiknummern, die manchmal ganz einfach („Deep into the ground“), dann wieder recht vielschichtig („Solidarity“), äußerst emotional („The Letter“, „Electricity“), auch mal schwungvoll („Born to Boogie“) oder kraftvoll und energiegeladen („The stars looks down“, „Once we were kings“, „Angry dance“) sind – und die neun Musiker unter der Leitung von Patrick Hurley werden den anspruchsvollen Kompositionen erfreulicherweise in ganzem Maße gerecht.
Mit Lee Hall hatte Elton John außerdem einen mehr als fähigen Buch- und Textautoren an seiner Seite, der die Story nicht nur stringent erzählt, sondern auch grandiose Songtexte geschaffen hat, die im englischen Original so stark und aussagekräftig, so ehrlich und offen sind, dass man „Billy Elliot“ möglichst nicht übersetzen sollte. Umso erfreulicher, dass das Stück in Hamburg unter Einsatz von deutschen Übertiteln auf Englisch gespielt wird.
Gegen Ende des Stücks befindet sich der kleine Billy zum Vortanzen in einem Tanzsaal der Londoner Royal Ballet School. Von einem Jurymitglied wird er gefragt, was er fühlt, wenn er tanzt. „I can’t really explain it, I haven’t got the words“, antwortet er und hätte damit keine treffendere Zusammenfassung für das Musical „Billy Elliot“ liefern können. Denn diese Show ist so atemberaubend-emotional, dass einem wahrlich die Worte dafür fehlen und man sich nach dem Schlussvorhang erst einmal sammeln und das Gesehene sacken lassen muss. Bedauerlich, dass dieses grandiose Stück nur kurze Zeit in Hamburg zu sehen ist. Danach wird die Musicalszene in der Hansestadt wieder um einiges ärmer sein.
Text: Dominik Lapp