Lang lebe das Theater: „14 Vorhänge“ in Augsburg als Virtual-Reality-Erlebnis fürs Wohnzimmer
Die Corona-Pandemie stellt Theater vor eine besondere, noch nie dagewesene Herausforderung. Nachdem die Kulturstätten nun schon vier Monate geschlossen sind, setzen immer mehr Häuser auf Streaming-Formate, zeigen Videoclips im Internet, bieten Theatererlebnisse sogar am Telefon an. Not macht eben erfinderisch. Schon relativ früh hat das Staatstheater Augsburg dabei eine Vorreiterrolle eingenommen. Das Haus, das als erstes Theater Deutschlands eine Digitalisierungsbeauftragte hat, bietet inzwischen mehrere Produktionen als Virtual-Reality-Inszenierung für zu Hause an. Neu in dem digitalen Angebot ist der erst jetzt uraufgeführte Monolog „14 Vorhänge“ von dem 2001 verstorbenen Einar Schleef.
Das Angebot funktioniert so: Man bestellt sich über die Webseite des Staatstheaters eine VR-Brille und hat dann zwei Tage Zeit, um sich die auf der Brille gespeicherte 360-Grad-Vorstellung anzusehen. Beim Aufsetzen der Brille startet die Vorstellung automatisch, sobald die Brille abgesetzt wird, pausiert sie. Anschließend schickt man die Brille ans Theater zurück.
In „14 Vorhänge“ sitzt man nicht nur mitten im Geschehen, sondern folgt dem Schauspieler Klaus Müller durch das gesamte Theater. Weil das Augsburger Staatstheater zurzeit aufgrund einer mehrjährigen Sanierung und Modernisierung komplett entkernt wurde, findet man sich als Zuschauer also inmitten einer großen Baustelle. In dem Text von Einar Schleef geht es um den Rückblick eines alternden Schauspielers, der das Ende des Theaters kommen sieht. Wie absolut passend, dieses Stück jetzt aufzuführen, wo alle Theater geschlossen sind.
In der geradezu selbstironischen Inszenierung von Intendant André Bücker folgt man nun also – auf dem Sofa sitzend – im 360-Grad-Blickwinkel dem Schauspieler Klaus Müller, wie er durch das menschenleere Schwarz-Weiß-Theater wandelt. Man bewegt sich durch das Foyer, zieht vorbei an einer aus der Verankerung geschlagenen WC-Tür, geht durch den Zuschauerraum und Treppenhäuser, bis hoch zum Schnürboden. Blickt man vom Sofa hinunter, geht es von dort plötzlich viele Meter tief hinab bis zur Bühne – zum Glück kann man sich an der Tischkante festhalten!
Während der ersten Hälfte des insgesamt rund einstündigen Stücks spricht Klaus Müller nicht. Er atmet nur. Musikalisch werden die Szenenbilder von Stefan Leibold passend untermalt. In der zweiten Hälfte jedoch ist Müller endlich auf der Bühne angekommen. Im Bademantel greift er nach einer Krone, setzt sie auf und beginnt zu erzählen. Von den 14 Vorhängen beim Schlussapplaus, wie ihn das Publikum einst feierte und verehrte. Es sind Erinnerungen eines heimatlos gewordenen Schauspielers, von denen Müller packend mit sonorer Stimme erzählt. Und immer wieder schwingt dabei die Gegenwart mit, weil doch gerade alle Theaterschauspieler pandemiebedingt mehr oder weniger heimatlos geworden sind.
Der Schauspieler spürt der Aura der einstigen Triumphe nach, erlebt die Vergänglichkeit des Theaters und macht den Schmerz über das zerbröckelnde Theaterschaffen für den Zuschauer erlebbar. Zeitweise sieht man sich sogar Auge in Auge mit Klaus Müller, steht ihm direkt gegenüber. Das sorgt für Gänsehaut. Wann sonst hat man schon mal einen Schauspieler so nah vor sich? Vor allem jetzt, wo ohne Maske und anderthalb Meter Abstand nichts mehr geht? Am Ende erweist sich „14 Vorhänge“ als bedrückende Totenmesse auf das Theater. Das Theater ist tot. Lang lebe das Theater! Jetzt erst recht.
Text: Dominik Lapp