Ästhetische Neuinszenierung: „A Chorus Line“ in Hamburg
Zum ersten Mal darf das Musical „A Chorus Line“ in Deutschland frei inszeniert werden. Noch bevor die renommierten Bad Hersfelder Festspiele diesen Sommer ihre Inszenierung von Melissa King zeigen, feierte das Stück (Regie und Choreografie: Till Nau) schon jetzt als Abschlussproduktion der Stage School Hamburg Premiere im First Stage Theater. Dort kommt genauso wie in Bad Hersfeld die neue deutsche Fassung von Robin Kulisch zu Gehör und muss aus lizenzrechtlichen Vorgaben ohne Pause aufgeführt werden. Für die zweieinhalb Stunden benötigt man also gutes Sitzfleisch, doch glücklicherweise ist die Show sehenswert inszeniert und choreografiert, so dass die Zeit wie im Flug vergeht.
Es kann durchaus als kleine Sensation bezeichnet werden, dass „A Chorus Line“ frei inszeniert werden darf. Bislang musste man sich nämlich immer streng an die Uraufführungsfassung aus dem Jahr 1975 halten, die am Broadway bis 1990 zu sehen war und es dort auf mehr als 6.000 Aufführungen brachte. In Hamburg ist die Besetzung mit 43 Personen größer als am Broadway, weshalb Regisseur und Choreograf Till Nau noch mehr zeigen kann vom Leben am Theater – denn dort spielt das Stück – und der zweieinhalbstündigen Audition-Situation. So hat er zum Beispiel mit einer Pianistin und einer Stagemanagerin zwei zusätzliche Rollen geschaffen. Letztere durchbricht sehr witzig immer mal wieder die vierte Wand und wendet sich direkt ans Publikum.
Die Show beginnt bereits vor dem eigentlichen Start mit einer Pre-Show. Auf der offenen Bühne steht ein Ghostlight, Techniker laufen umher, Kabel werden aufgewickelt, erste Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Audition machen sich warm. Dementsprechend sieht man ein Bühnenbild von Felix Wienbürger, wie man es aus amerikanischen Tanzfilmen à la „Flashdance“ kennt: Typische New Yorker Backsteinwände, rückwärtige Anliefertür, Scheinwerfer, Leuchtschilder, Spiegel, eine große schwarze Bühnenfläche – und natürlich eine weiße Chorus Line auf dem Bühnenboden, die die Farbe ändern kann. Die Kostüme von Robby Wörsing wechseln von farbenfroher, meist knapp geschnittener Trainings- und Tanzkleidung – darunter Ein- und Zweiteiler – zu wunderschönen Show-Outfits mit viel Strass und Pailletten.
Das Musical von James Kirkwood jr. und Nicholas Dante (Buch), Marvin Hamlisch (Musik) und Edward Kleban (Songtexte) basiert auf Erinnerungen der Originalcast und spiegelt somit authentisch das harte Leben von Tänzerinnen und Tänzern auf und jenseits der Bühne wider. Mit Till Nau wurde dafür ein Regisseur und Choreograf engagiert, der selbst jahrelang aktiv auf der Bühne stand und das Showgeschäft bestens kennt.
Nau schafft es, einerseits die kleinen Geschichten der einzelnen Charaktere überzeugend zu vermitteln und andererseits große Showszenen zu kreieren. So entsteht aus Regie, Choreografie, Bühnenbild, Kostümen und Licht (Design: Till Nau) eine durchweg ästhetische Inszenierung, die vor Qualität nur so strotzt und eine Hommage ist an die Tänzerinnen und Tänzer, die dem Broadway täglich zu Glanz verhelfen – selbst, wenn sie nur im Hintergrund zu sehen sind.
Um diese Geschichte über Zweifel, Ängste und Erfolge zu erzählen, benötigt es eine starke Cast – und die steht im First Stage Theater unbestreitbar auf der Bühne. Angeführt wird sie von Natascha C. Hill in der Rolle der Cassie, die ein glaubwürdiges Bild zeichnet von einer Künstlerin, die nach einer misslungenen Hollywood-Karriere zurück in die Chorus Line möchte. Hill stellt ihre Rolle nuanciert mit großer Wahrhaftigkeit dar, fesselt mit angenehmer Stimme und tänzerischer Qualität. Ihr Solo erweist sich dabei als ein Höhepunkt des Abends.
Nicht weniger überzeugend ist Benjamin Plautz als Zach, der schauspielerisch ebenso glänzt. Fabelhaft ist zudem Elisabeth Bengs, die schon während ihrer gerade erst abgeschlossenen Musicalausbildung unter anderem als Elle Woods in „Natürlich Blond“ sowie in der Weihnachtsshow zeigen konnte, dass sie ein exzellentes Nachwuchstalent ist. In „A Chorus Line“ sticht sie in der Rolle der Val nicht nur durch ihren neonpinken Zweiteiler hervor, sondern auch durch ihre starke Bühnenpräsenz und eine grandiose tänzerische wie gesangliche Leistung.
Bei einem 43-köpfigen Ensemble mit 20 solistischen Rollen ist es schwer, allen gerecht zu werden, wenn sie so eine kraftvolle Performance liefern wie in dieser Inszenierung. Stellvertretend sollen aber auf jeden Fall Judith Urban (Sheila), Chiara Goetschi (Kristine), Leonie Hammel (Maggie) und Rike Wischhöfer (Judy) genannt sein, die nachhaltig in Erinnerung bleiben. Anna Talimaa darf als Diana zudem die zentrale Hymne des Abends („Was mein Herz mir sagt“ / „What I did for Love“) singen – ein echter Gänsehaut-Moment. Aus der Herrenriege stechen rollenbedingt Kevin Gordon Valentine (Greg), Maximilian Vogel (Bobby), Vincent Treftz (Mark) und Lukas Poischbeg (Paul) hervor.
Eine zentrale Rolle – wie könnte es bei einem Musical anders sein – spielt außerdem die Musik von Marvin Hamlisch. Unter der Leitung von Johannes Hierluksch trägt die bestens aufgelegte Band zur emotionalen Wirkung der Show bei. Die stark von Jazz und klassischem Broadway-Stil beeinflussten Nummern sind rhythmisch und energiegeladen, was sehr gut zu den Tanznummern und der dynamischen Choreografie passt. Die neuen deutschen Texte von Robin Kulisch, die authentisch und auf den Punkt sind, unterstützen die Charakterentwicklung und verhelfen den Figuren großartig zu Stimme und Persönlichkeit. Nach einem grandiosen Finale („Eins“ / „One“) endet „A Chorus Line“ am ausverkauften Premierenabend mit stehenden Ovationen. Ein gutes Omen für die kommenden Vorstellungen. Auf keinen Fall verpassen!
Text: Dominik Lapp