Zwischen Krieg und Wunderland: „Alice by Heart“ in Osnabrück
In einer Zeit, in der die Welt sich oft dunkel und bedrohlich anfühlt, bietet das Musical „Alice by Heart“ von den „Spring Awakening“-Schöpfern Duncan Sheik (Musik) und Steven Sater (Buch und Songtexte) sowie Jessie Nelson (Buch) einen geradezu poetischen Zufluchtsort. In einer eindringlichen Inszenierung von Ansgar Weigner feierte das Werk jetzt am Institut für Musik (IfM) der Hochschule Osnabrück seine deutschsprachige Erstaufführung.
Basierend auf Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ und seinen surrealen Figuren, erzählt das Musical die Geschichte eines jungen Mädchens namens Alice, das in den Schrecken des Zweiten Weltkriegs Trost in der Fantasie sucht. Diese intime und berührende Abschlussproduktion der Musicalstudierenden am IfM entfaltet sich in einem Raum, der zwischen der düsteren Realität und der verführerischen Kraft der Vorstellungskraft oszilliert. Die gelungene deutsche Übersetzung von Frederike Haas verleiht der Inszenierung eine sehr gute Zugänglichkeit.
Die Bühne (Ausstattung: Sarah Poehlmann, Anfertigung: Alexander Kubica) zeigt eine Londoner U-Bahn-Station, ein Refugium der Verzweiflung und der Hoffnung zugleich. Die weißen Kachelwände sind mit Schmierereien übersät, während Feldbetten den Eindruck einer temporären Zuflucht vermitteln. Diese Elemente verwandeln sich mit fließender Leichtigkeit in die surreale Szenerie des Wunderlands – die Feldbetten werden zu Spielkarten und symbolträchtigen Objekten, die Alice’ Reise durch die Fantasie begleiten.
Besonders beeindruckend ist die Überlagerung von Geschichte und Fantasie in einer Szene, in der im Hintergrund schwarzweiße Aufnahmen des Bombenangriffs auf London von 1941 gezeigt werden, während das Wunderland in all seiner absurden Pracht auf der Bühne lebendig wird. In diesen Momenten verschmilzt die surreale Welt mit der historischen Realität – ein kraftvolles Symbol für die Fähigkeit der Fantasie, traumatische Erfahrungen zu verarbeiten.
Die Musikalische Leitung von Martin Wessels-Behrens und seine sechsköpfige Band liefern einen soliden, atmosphärischen Klangteppich, der die Inszenierung exzellent unterstützt. Die Musik von Duncan Sheik schwebt zwischen leisen, melancholischen Tönen und mitreißenden, rhythmischen Passagen. Sie verstärkt die innere Zerrissenheit der Protagonistin Alice, die versucht, inmitten des Chaos einen Weg zu finden.
Laetitia Hippe glänzt in der Rolle der Alice und trägt mit Emotionalität die Geschichte. Besonders im dramatischen Finale zeigt sie die ganze Bandbreite ihrer darstellerischen Fähigkeiten: von der kindlichen Verspieltheit bis hin zur verzweifelten, aber dennoch hoffnungsvollen Flucht in die Fantasiewelt. Ihre Alice ist nicht nur das unschuldige Mädchen, das wir aus Carrolls Original kennen, sondern eine Figur, die die dunklen Seiten des Lebens bereits kennen gelernt hat und sich dennoch entschieden hat, sich der Fantasie hinzugeben, um der bitteren Realität zu entfliehen.
Jonas Helmers überzeugt in seiner vielseitigen Darstellung als Alfred, das weiße Kaninchen und der Märzhase. Besonders sein Alfred, der sich langsam in das Kaninchen verwandelt, das Alice in die Fantasiewelt führt, gibt der Inszenierung eine berührende Dynamik. Helmers verleiht dem Charakter eine melancholische Tiefe, die sich im Verlauf der Geschichte immer weiter entfaltet. Vor allem aber macht er eine starke Charakterentwicklung durch. Denn Alfred leidet an Tuberkulose und wird sterben. In der Fantasiewelt ist er deshalb als Kaninchen und Märzhase böse zu seiner Freundin Alice, damit sie ihn zu hassen beginnt – damit ihr der Abschied leichter fällt, wenn Alfred in der Realität stirbt.
Amani El-Sadek als Krankenschwester und Herzkönigin steht in scharfem Kontrast zu Alice. Ihre strenge, kontrollierende Energie als Krankenschwester weicht in der Rolle der Herzkönigin einer gnadenlosen Autorität, die das Wunderland beherrscht. Ihre scharfen, präzisen Bewegungen und die kraftvolle Stimme verleihen ihrer Darstellung eine bedrohliche Intensität.
Besondere Erwähnung verdient auch Tobias Gerisch, dessen affektiertes Spiel als Herzogin das Publikum mehrfach zu begeistertem Lachen bringt. Mit überzeichneter Mimik und theatralischer Gestik bringt er den absurden Humor der Carroll’schen Welt zum Strahlen, ohne jedoch die Ernsthaftigkeit des Stücks zu untergraben. Diese Momente der Leichtigkeit schaffen einen wertvollen Ausgleich zu den düsteren Themen des Musicals.
Pauline Weschta und Tim Stolberg als Raupe sowie Salyma Chatty als Grinsekatze ergänzen das Ensemble mit subtilen, aber effektvollen Darstellungen. Die kiffende Raupe mit ihrem trägen, doch weisen Auftreten, wirkt wie ein Sinnbild für die Entscheidungen, vor denen Alice steht, während die Grinsekatze, deren Songs Chatty großartig intoniert, durch ihre Unberechenbarkeit immer wieder Momente des Zweifels und der Unsicherheit einstreut.
Nuno Dehmel als Hutmacher verleiht seiner Figur eine skurrile, aber zugleich tiefgründige Note, Strato Stavridis als Maus überzeugt mit einer genauso nuancierten wie überdrehten Darstellung, während Daniel Nothnagel als Doktor Butridge, Jabberwocky und Schein-Schildkröte durch seine schauspielerische Vielseitigkeit hervorsticht und eine bedrohliche, fast dämonische Aura schafft.
Das Lichtdesign von Lukas Hippe hebt die surrealen Aspekte des Stücks wirkungsvoll hervor. Die geschickte Nutzung von Bühnennebel, kombiniert mit intensiven Lichtwechseln, verstärkt die traumhaften und teilweise beängstigenden Qualitäten des Wunderlands. Besonders in den Szenen, in denen Realität und Fantasie verschwimmen, trägt das Licht maßgeblich dazu bei, die Atmosphäre der Ungewissheit zu unterstreichen.
Michael Schmieder liefert mit seiner Choreografie ein weiteres Highlight. Die Bewegungen sind fließend, teilweise grotesk, und doch immer organisch in die Geschichte eingebettet. Besonders in den Ensemblenummern entfalten die Choreografien ihre volle Wirkung, indem sie die chaotische Schönheit und die skurrile Anmut des Wunderlands zum Leben erwecken.
„Alice by Heart“ ist nicht nur eine fantasievolle Adaption eines Klassikers, sondern auch eine kraftvolle Reflexion darüber, wie wir durch die Fantasie den Schmerz der Realität ertragen können. Besonders angesichts der aktuellen Weltlage, in der Menschen in der Ukraine Zuflucht in U-Bahn-Stationen suchen, erhält die Inszenierung eine bedrückende, aktuelle Brisanz.
Das Stück ist mehr als nur ein Musical. Es ist eine Einladung, über die Kraft der Fantasie nachzudenken und sich der eigenen Realität zu stellen. Am Ende geht das Publikum nicht nur bewegt, sondern auch gestärkt aus dem Theater – mit einem neuen Blick auf die Herausforderungen des Lebens und der Erkenntnis, dass die Fantasie manchmal der beste Zufluchtsort sein kann.
Text: Dominik Lapp