Völlig schräg: „Alice“ in Detmold
Dass es ein nicht ganz normaler Abend werden würde, verrät schon der überdimensionale rote Stuhl, der weit aus dem Orchestergraben herausragt. Und so darf der Zuschauer in den zwei folgenden Stunden einem Mädchen namens Alice ins völlig schräge Wunderland zu Hutmacher, Märzhase und Co. folgen. Dabei ist es Regisseurin Tatjana Rese gelungen, das Musical „Alice“, diese altbekannte Geschichte nach der literarischen Vorlage von Lewis Carroll, am Landestheater Detmold sehr intelligent zu inszenieren.
Eine Steilvorlage aber auch Herausforderung für die Regie lieferte Robert Wilson, der Buchautor des Musicals, indem er den nicht unumstrittenen Fotografen und Dichter Charles Dodgson – besser bekannt unter seinem Künstlernamen Lewis Carroll – in die Handlung eingebaut und Alice damit ihren Erschaffer an die Seite gestellt hat. Um Dodgson ranken sich viele Gerüchte – schon allein aufgrund der Tatsache, dass er in seinem Fotostudio kleine Mädchen empfing, um sie zum Teil nackt zwischen Plüschhasen und mechanischen Teddybären zu fotografieren. Mehrere Tausend solcher Fotos, die in der heutigen Zeit umgehend die Ermittlungsbehörde auf den Plan rufen würden, sollen einst existiert haben.
Doch wer war Charles Dodgson? Ein Pädophiler? Zumindest lassen neben den Fotos auch seine Briefe, die er den Mädchen schrieb, darauf schließen. Oder war er nur ein Fotograf mit einer – zugegebenermaßen äußerst fragwürdigen – Vorliebe für das Ablichten von Kindfrauen? Diese und weitere Fragen werden im Musical „Alice“ aufgegriffen. War es doch Alice Liddell, die Dodgson zu seinem Buch „Alice im Wunderland“ inspirierte, die er als seine Kinderfreundin bezeichnete und der er zahlreiche Briefe schrieb, die Alice‘ Mutter alle vernichtete, nachdem die Familie Liddell den Kontakt zu Dodgson abrupt abgebrochen hatte.
Regisseurin Tanja Rese nutzt das Mysterium um Charles Dodgson für eine starke Personenführung. Immer wieder taucht Dodgson (stark: Roman Weltzien) mit seiner großen Fotoapparatur auf, lichtet Alice in allen erdenklichen Situationen und Posen ab. Anna Sjöström räkelt sich als Alice unschuldig-naiv wie ein kleines Mädchen auf dem überdimensionalen roten Stuhl, der aus dem Orchestergraben ragt. Sie spreizt ihre mit einer Strumpfhose benetzten Beine und liefert Dodgson damit die Motive, die er auf Fotopapier bannen will.
Die erwachsene Alice erinnert sich an ihre Zeit im Fotostudio, an das Fantasiereich, an die unbewältigten Eindrücke. Um ihren Albträumen entfliehen zu können, meint sie, ein Rätsel namens Jabberwocky entschlüsseln zu müssen. Doch zum Schluss findet sie sich in einem Prozess wieder, in dem sie aufgrund ihrer Beziehung zu einem Mann, der ihr Vater sein könnte, verurteilt werden soll. Dodgson allerdings nimmt alle Schuld auf sich, gibt sich als Urheber der Fotos und Briefe zu erkennen und muss zur Strafe ein Gefangener der Monster seiner Fantasie bleiben.
Durch das Bühnenbild und die Kostüme von Pia Wessels wird diese psychologisch nicht ganz einfache Handlung sehr gut unterstützt und die Fantasiewelt visuell fantastisch dargestellt. Die Szenerie zeigt dabei Dodgsons Fotostudio, das sich durch aufklappbare Rückwände und eine Drehbühne schnell in weitere Szenenbilder verwandeln kann. Und auch die aufwändigen und detailverliebten Kostüme sind sehenswert – sei es nun die Eierschale von Humpty Dumpty, ein strickendes weißes Schaf, ein in feiner Uniform gewandeter Fisch und Frosch oder das mit zahlreichen Puppen bestückte Kleid der Schachkönigin.
Und auch die Darsteller lassen durch die Bank weg nichts zu wünschen übrig. Roman Weltzien ist als Charles Dodgson ein herrlich getriebener Fantast. Anna Sjöström gelingt als Alice hervorragend die Balance zwischen kindlicher Unschuld und der Emanzipation von Dodgson. Stephanie Pardula mimt die Schachkönigin mit eindringlichem Schauspiel und Markus Hottgenroth kann als Schachkönig mit seinem „Kommienezuspadt“ das Publikum – insbesondere nach der Pause – zu einigen Lachern hinreißen. Während Simon Breuer als Hutmacher mit seinem schrulligen Auftritt überzeugt, erntet Christoph Gummert Szenenapplaus für seine Szene als weißes Schaf, das an seiner eigenen Wolle strickt.
Wie man es von Musicals mit der Musik von Tom Waits gewohnt ist, bietet auch „Alice“ keinerlei Ohrwürmer. Doch klingen die Melodien hier nicht ganz so schräg wie beispielsweise in Waits‘ „Woyzeck“. Der musikalische Fokus bei „Alice“ liegt auf Jazzklängen, und die Skurrilität der Handlung sowie die außergewöhnliche Inszenierung werden zudem von einem Theremin untermalt, dem Claudia Mooz in der Rolle der Cheshire Cat ungewöhnlich hohe Töne entlockt.
Insgesamt kommt die siebenköpfige Band unter der Leitung von Thomas Wolter sehr gut klar mit der nicht besonders melodiösen Partitur und sorgt für eine souveräne Leistung im Orchestergraben, so dass die sehr gelungene Inszenierung und die starken Leistungen der Bühnenkünstler einen perfekten musikalischen Rahmen erhalten. Wer sich also auf ein nicht alltägliches Stück, nicht alltägliche Musik und eine fordernde Inszenierung einlassen kann, wird in Detmold mit „Alice“ einen lohnenswerten Musicalabend fernab des Mainstreams erleben.
Text: Dominik Lapp