Weniger ist mehr: „Anastasia“ in Linz
Es ist eine kleine Sensation, dass sich ein Mehrspartenhaus wie das Landestheater im österreichischen Linz die Aufführungsrechte für das Broadway-Musical „Anastasia“ sichern konnte. Doch in Zusammenarbeit mit Stage Entertainment zeigt man in Linz keinesfalls einen Klon der Stuttgarter Stage-Großproduktion, sondern eine Neuinszenierung von Matthias Davids, die wesentlich düsterer ist als das Original.
Das liegt vor allem an dem etwas spartanischen (deshalb aber nicht schlechten!) Bühnenbild von Andrew D. Edwards, das von einem Gerüst mit Treppen dominiert wird. Dieses deutet im ersten Akt zunächst den Ballsaal und dann die Ruine des Zarenpalastes an, während weitere Szenenbilder lediglich durch Requisiten und Beleuchtung (Lichtdesign: Michael Grundner) visualisiert werden. Im zweiten Akt wird dann verstärkt die Drehbühne genutzt, um verschiedene Szenen in Paris darzustellen. Das alles funktioniert perfekt und beweist einmal wieder, dass weniger manchmal mehr ist. Die Kostüme von Ales Valásek sorgen ebenfalls für die passende Optik, spiegeln in dunklen Tönen Russland und in hellen das lebendige Paris wider.
Wer den gleichnamigen Zeichentrickfilm kennt, dürfte überrascht sein, dass das Musical nur vage auf der Filmvorlage basiert. Zwar wurde die Originalmusik des musicalerfahrenen Stephen Flaherty („Rocky“) übernommen und von ihm für die Bühnenversion um neue Nummern ergänzt, aber die Story unterscheidet sich vom Film. So wurden zum Beispiel der böse Rasputin und seine Fledermaus Bartok gänzlich gestrichen, viele Szenen verändert, gestrafft und neue Szenen eingebaut. Mit Leutnant Gleb wurde als Ersatz für Rasputin außerdem ein neuer und authentischer Gegenspieler für die Titelheldin geschaffen: Dieser hat den Befehl der sowjetischen Regierung erhalten, Anja zu töten, sollte sie wirklich die Großfürstin Anastasia sein.
Musikalisch ist „Anastasia“ ein wunderbar symphonisches Werk. Neben den aus dem Film bekannten Songs wie „Im Dezember vor Jahren“, „Reise durch die Zeit“ und „Was erzählt wird in St. Petersburg“, gibt es neue Songs für Anja, ihren Weggefährten Dimitri oder Leutnant Gleb. Während insbesondere die Nummern aus dem Kinofilm in Erinnerung bleiben, plätschern einige andere Titel jedoch nur vor sich hin. Doch wie auch immer: Tom Bitterlich dirigiert sein Orchester mit Verve und die Musikerinnen und Musiker spielen mit größter Leidenschaft, was ein großer Gewinn für die Produktion ist.
Regisseur Matthias Davids erzählt die Geschichte rund um die russische Zarentochter genauso flott wie spannend. Nur wenige Szenen – wie das Tête-à-Tête zwischen Gräfin Lily und Wlad – nehmen der Handlung zeitweise den Drive. Aufgewertet wird die Inszenierung durch die dynamische Choreografie von Kim Duddy. Getragen wird das Musical aber insbesondere von einem großartigen Ensemble.
Hanna Kastner besticht als Anja mit jugendlicher Leichtigkeit und erfrischendem Schauspiel, vollzieht den Wandel von der Obdachlosen zur Großfürstin hervorragend und lässt in allen Songs ihren Sopran regelrecht strahlen. Ihr zur Seite steht Lukas Sandmann, der als Dimitri einen schlitzohrigen Gauner gibt, der sich später zu einem echten Gentleman mausert, was ihm schauspielerisch wie gesanglich gelingt.
Nikolaj Alexander Brucker ist als Gleb ein starker Antagonist. Er singt exzellent, während ihm schauspielerisch eine respekteinflößende Charakterzeichnung glückt. Darüber hinaus liefern Karsten Kenzel und Judith Jandl als Wlad und Lily eine sehr gute Leistung und sorgen als Paar für viele Lacher.
Besonders stark im Schauspiel ist darüber hinaus Daniela Dett, die eine strenge und würdevolle Zarenmutter gibt. Jede ihrer Szenen beherrscht sie durch ihre einnehmende Bühnenpräsenz. Dett gehört zudem der stärkste Moment der Inszenierung, nämlich die Schlüsselszene, in der die Zarenmutter erkennt, dass Anja die Großfürstin Anastasia ist.
Insgesamt kann „Anastasia“ in Linz also mit starker Besetzung, einem großartigen Orchester und einer gelungenen Inszenierung begeistern, die sich hinter der Großproduktion nicht zu verstecken braucht.
Text: Dominik Lapp