Fantastische Bilder: „Anastasia“ in Stuttgart
Vor mehr als 20 Jahren begeisterte der Zeichentrickfilm „Anastasia“ das Kinopublikum. Der Streifen, der ausnahmsweise nicht aus dem Hause Disney, sondern von Twentieth Century Fox stammt, verzauberte vor allem mit seiner wunderschönen Musik aus der Feder von Stephen Flaherty. Und obwohl schnell Stimmen nach einer Musicaladaption laut wurden, dauerte es doch knapp zwei Jahrzehnte, bis es endlich soweit war. Jetzt ist das märchenhafte Musical auch im Stuttgarter Palladium Theater zu sehen.
Über eines sollte man sich im Klaren sein: Das Musical basiert nur lose auf der Filmvorlage. Zwar wurde die Originalmusik des musicalerfahrenen Stephen Flaherty („Rocky“, „Ragtime“) übernommen und von ihm für die Bühnenversion um etliche neue Nummern ergänzt, aber die Story unterscheidet sich vom Film. So wurden zum Beispiel der böse Rasputin und seine Fledermaus Bartok gänzlich gestrichen, viele Szenen verändert, gestrafft und neue Szenen eingebaut. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass das Musical mit dem Buch von Terrence McNally historisch nicht korrekt ist, sondern ein Märchen erzählt über das Waisenmädchen Anja, das vorgibt, die russische Großfürstin Anastasia zu sein.
Wenn man diese beiden Punkte verinnerlicht hat, kann man sich von „Anastasia“ verzaubern lassen und einen hervorragenden Musicalabend erleben. Die Überarbeitungen und Ergänzungen im Vergleich zum Film lassen das Stück nur gewinnen. So ist es konsequent gewesen, den im Film als dunklen Zauberer dargestellten Rasputin, der Anja nach dem Leben trachtet, zu streichen. Stattdessen hat man mit Leutnant Gleb eine neue, authentischere Rolle geschaffen: Gleb hat den Befehl der sowjetischen Regierung erhalten, Anja zu töten, sollte sie wirklich die Großfürstin Anastasia sein.
Dass die Story gut funktioniert, liegt an dem Buch von Terrence McNally, der sowohl den ersten Akt in Russland als auch den zweiten Akt in Paris mit hohem Tempo erzählt und glaubwürdige Dialoge geschaffen hat, die von Ruth Deny sehr treffend übersetzt wurden. Stephen Flaherty (Musik) und Lynn Ahrens (Songtexte) haben außerdem passende Songs geschrieben, die sich nahtlos in ihren bereits bestehenden Filmscore einfügen und die von Wolfgang Adenberg sinngemäß ins Deutsche adaptiert wurden.
Da sind einerseits die aus dem Film bekannten und wirklich bezaubernden Titel „Im Dezember vor Jahren“ und „Reise durch die Zeit“ oder die stimmige Eröffnungsnummer „Was erzählt wird in St. Petersburg“, andererseits jedoch neue Songs für Anja, ihren Weggefährten Dimitri oder Leutnant Gleb. Schade ist aber, dass Anjas drei Solosongs alle im ersten Akt zu Gehör kommen und der zweite Akt deshalb keine musikalischen Höhepunkte mehr bieten kann. So schön die Musik auch ins Ohr geht und die Handlung vorantreibt, so sehr plätschert sie teilweise auch nur so vor sich hin.
Für das Orchester unter der Leitung von Boris Ritter muss es eine wahre Freude sein, die abwechslungsreiche und exzellent orchestrierte Musik von Stephen Flaherty spielen zu dürfen. Ritter dirigiert mit Verve und seine Musiker spielen mit Leidenschaft, was einen wahren Ohrenschmaus bereitet. Die akustische Opulenz ist darüber hinaus äußerst passend zum herausragenden Bühnenbild von Alexander Dodge, das einem wirklich die Sprache verschlägt.
So verleihen die opulent gestalteten Kulissenteile in Verbindung mit dem Projektionsdesign von Aaron Rhyne nicht nur dreidimensionale Tiefe, sondern vor allem Authentizität. In Sekundenschnelle verwandelt sich das Bühnenbild durch das Zusammenspiel von beweglichen Kulissen und der zentralen LED-Wand vom Romanow-Palast in eine verschneite Stadtsilhouette, einen Opernsaal oder einen Nachtclub.
Auch die Kostüme von Reto Tuchschmid sind eine Augenweide – insbesondere die Kleider, die für die Adligen entworfen wurden. Eine große optische Entwicklung macht dabei die Rolle der Anja durch, trägt sie doch zuerst die Kleidung einer einfachen Straßenkehrerin, später dann verspielte Charleston-Kleider und letztendlich eine reich verzierte Zarenrobe.
Die Buchvorlage hat Regisseurin Carline Brouwer genutzt, um die Geschichte genauso flott wie spannend zu erzählen und den Charakteren ein scharfes Profil zu verleihen. Nur durch wenige Szenen, wie zum Beispiel das Tête-à-Tête zwischen Gräfin Lily und Wlad im zweiten Akt, gerät die Handlung ein wenig ins Stocken. Aufgewertet werden die Szenen durch die Choreografie von Denise Holland Bethke, die das Ensemble beim Ball am russischen Zarenhof genauso wie später in Paris tänzerisch glänzen lässt. Ein Höhepunkt ist dabei der Ausschnitt aus einer Ballettaufführung des „Schwanensees“ in Paris.
Getragen wird „Anastasia“ aber gewiss auch von einer sehr gut ausgewählten Besetzung. Eine echte Entdeckung als Anja ist Judith Caspari, die durch ihre wunderbare jugendliche Leichtigkeit und erfrischend authentisches Schauspiel zu begeistern vermag. Der Wandel von der überzeugend einsamen Obdachlosen zur strahlenden Großfürstin gelingt ihr exzellent. Auch gesanglich lässt sie aufhorchen, wenn sie ihre Songs mit ihrem hellen Sopran leidenschaftlich intoniert.
Ihr zur Seite steht Milan van Waardenburg, der sich in der Rolle des Dimitri vom schlitzohrigen Gauner zu einem wahren Gentleman entwickelt. Dies gelingt ihm sowohl schauspielerisch erstklassig als auch stimmlich. Das Zusammenspiel zwischen Caspari und van Waardenburg ist wunderbar, insbesondere, wie sie sich gegenseitig die Bälle zuspielen und ihre Charaktere – immer ein Ziel vor Augen – eine homogene Einheit formen lassen.
Mathias Edenborn ist als Gleb ein starker Antagonist. Er singt tadellos und wirkt in seinem Schauspiel bedrohlich, ohne seine Figur zu überzeichnen. Vielmehr gelingt ihm eine starke, respekteinflößende Charakterzeichnung, die deutlich macht, wie richtig es ist, dass der Film-Rasputin durch Leutnant Gleb ersetzt wurde.
Aber auch Thorsten Tinney und Jacqueline Braun liefern als Wlad und Lily eine sehr gute Leistung und sorgen als Paar für etliche Lacher. Insbesondere Braun gibt ihre Gräfin Lily überschwänglich und witzig, während Tinney den besonnenen Ruhepol mimt. Extrem stark im Schauspiel ist darüber hinaus Daniela Ziegler, die eine strenge und würdevolle Zarenmutter gibt. Jede ihrer Szenen beherrscht sie durch ihre einnehmende Bühnenpräsenz, ihr akzentuiertes Auftreten und diese unglaubliche Wärme, die sie bei all der Verbitterung der Zarenmutter trotzdem noch ausstrahlt. Die Szenen zwischen Daniela Ziegler und Judith Caspari bilden dabei die emotionalen Höhepunkte des Stücks.
So mag „Anastasia“ zwar nur ein weiteres auf einem Zeichentrickfilm basierendes, nicht einmal historisch korrektes Musical sein. Es ist aber so perfekt umgesetzt, bietet eine spannende Handlung, fantastische Bilder und gefällige Musik, dass es sich als exzellentes Bühnenmärchen erweist und definitiv sein Publikum in Deutschland finden wird.
Text: Dominik Lapp