Zwischen Glück und Tragik: „Anatevka“ in Hagen
Geigenklänge durchbrechen die erwartungsvolle Stille im Saal. Gespielt vom Geiger auf dem Dach. Einer Figur, die dem Musical „Anatevka“ seinen englischen Originaltitel gab: „Fiddler on the Roof“. Mit dem 1964 uraufgeführten Werk von Joseph Stein und Jerry Bock startet das Theater Hagen in die neue Saison – und geht gleich in die Vollen. Seit anderthalb Jahren kann das Haus wieder eine Inszenierung in ganzer Besetzung zeigen: mit Solisten, Ensemble, Chor, Ballett und Statisten auf der Bühne, 30 Musikerinnen und Musiker im Orchestergraben und vor nahezu vollen Rängen. Nach der viel zu langen Corona-Zwangspause eine Wohltat für Augen, Ohren und Herz. Auch, weil die Hagener Inszenierung unterhält, berührt und gekonnt zwischen Glück und Tragik balanciert.
Die Balance halten, das müssen auch die jüdischen Bewohner von Anatevka, einem Schtetl im zaristischen Russland im Jahr 1905. In einer Welt im Umbruch, voller gesellschaftlicher Spannungen, revolutionären Unruhen und mit zunehmenden Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung. „Wir alle sind Fiedler auf dem Dach“, sagt darum auch die Hauptfigur Tevje direkt zu Beginn des Stücks, das auf den Kurzgeschichten von Scholem Aleichem beruht, einem jiddischen Autor, der 1905 aus dem russischen Zarenreich floh, um antijüdischen Pogromen zu entkommen.
Sicherheit findet der Milchmann Tevje wie die meisten Menschen im Schtetl im Glauben, Halt in den Traditionen. In Traditionen, die das Zusammenleben der Gemeinschaft klar regeln, aber auch tief ins Leben aller eingreifen. So gehört es sich auch, dass die Eltern die Ehepartner der Kinder auswählen. Als sich Zeitel (Rahel Wissinger) – die älteste von Tevjes fünf Töchtern – jedoch gegen gegen den Wunsch ihres Vaters und für den armen Schneider Mottel (Matthias Knaab) ausspricht, kommt Tevjes Lebenswelt ins Wanken. Er stimmt Zeitels Wahl letztlich zu und auch in die Liebeshochzeit seiner zweiten Tochter Hodel (Karina Kettenis) mit dem Studenten Perchik (Michael Mayer) ein. Doch als auch Tochter Chava (Magdalena Allgaier) selbst entscheidet und einen nichtjüdischen Russen heiratet, bricht sie mit allem, was die Tradition ausmacht – und der Vater mit seiner Tochter. Erst, als die jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner aus Anatevka vertrieben werden und gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, hält er doch an seiner Tochter fest.
Ansgar Schäfer gibt einen großartigen Tevje. Er hadert und hinterfragt, feiert und flucht, trauert und tanzt, ist mal stur, mal verletzlich. In jeder Szene zeichnet er das authentische Charakterporträt eines hart arbeitenden Mannes, der seinen Humor und seinen Glauben nie verliert. Und der es – fest in seinen Traditionen verhaftet – dennoch versteht, dazuzulernen und auch sein Weltbild und sich selbst zu hinterfragen. Bewegend gelingt die Szene mit Ehefrau Golde (resolut und stark: Kristine Larissa Funkhäuser), in der er seine eigene Ehe in den Blick nimmt und sie fragt: „Ist es Liebe?“ Berührend seine Entscheidung als liebender Vater, seine Tochter entgegen aller Traditionen dennoch nicht zu verleugnen.
Die enge Welt des Schtetls und des von Traditionen, Vorgaben und Erwartungshaltungen geprägten Zusammenlebens wird im Bühnenbild von Alfred Peter spürbar. Die hohen Häuser stehen eng beieinander, die Fronten lassen sich teilweise nach vorne bewegen, einige geben Einblick in die privaten Räume. Innen und außen, gesellschaftliches und privates Leben verschwimmen. Gleichzeitig lässt die Häuserzeile ausreichend Raum für die großen Ensemblenummern des Stücks, bei denen das gesamte Ensemble mit Chor und Ballett die Bühne und auch die Menschen im Publikum voller Energie und Spielfreude für sich einnimmt und der satte Klang aus dem Orchestergraben (Musikalische Leitung: Steffen Müller-Gabriel) für wahren Hörgenuss sorgt.
Überhaupt wechseln sich Momente voller Lebensfreude mit Szenen voller Tragik ab, stehen private Momente des Glücks bedrohlichen gesellschaftlichen Entwicklungen und Spannungen gegenüber. Dieses Wechselspiel bringt Regisseur Thomas Weber-Schallauer eindringlich und gleichzeitig unterhaltsam auf die Bühne. Er nimmt die Zuschauenden mit in den Mikrokosmos eines Schtetls aus dem frühen 20. Jahrhundert und rückt dabei gezielt die auch heute noch aktuellen Themen wie Heimatverlust, Flucht und Vertreibung in den Fokus. Denn auch wenn Augenblicke der Lebensfreude die tragischen Entwicklungen abfedern – ein Happy End gibt es in Anatevka nicht. Die jüdischen Bewohner werden aus ihrer Heimat vertrieben und ziehen ins Ungewisse – begleitet vom Geiger und seiner Melodie, der mit ihnen zieht.
Text: Corinna Ludwig, theaterliebe.com