Mehr als nur eine Schulaufführung: „Carrie“ in Lohne
In amerikanischen Schulen haben Musical-AGs eine lange Tradition, in deutschen weniger. Eine der seltenen Ausnahmen bildet dabei das Gymnasium im niedersächsischen Lohne, das bereits seit 1995 jedes Jahr ein bis zwei Musicalproduktionen auf die Bühne bringt. Rund 100 Schülerinnen und Schüler aller Jahrgänge sind involviert und werden dabei von den Lehrerinnen und Lehrern unterstützt.
In diesem Jahr zeigen sie das Musical „Carrie“ von Michael Gore (Musik), Dean Pitchford (Text) und Lawrence D. Cohen (Buch) – kein einfaches Stück für Laien, aber authentisch zu besetzen, weil es in einer Schule spielt. Schnell wird klar, dass das eine Aufführung auf ganz hohem Niveau ist. Während Profiproduktionen des Stücks, zum Beispiel in Osnabrück und Hamburg, mit einer Band umgesetzt wurden, fährt man in Lohne ein 16-köpfiges Orchester auf, das unter der Leitung von Peter Krebs für einen druckvollen Sound sorgt.
Auch beim Bühnenbild von Chantal Holters und Vincent Kaufmann wurde nicht gekleckert, sondern geklotzt. Einen effektvoll einsetzbaren Vorhang aus kleinen Metallringen bekommt man im Theater schließlich nicht alle Tage zu sehen. Durch verschiedene Möbelstücke und Requisiten entstehen immer neue Szenerien wie High School, Sporthalle oder Carries Zuhause. Der schräge Bühnenboden sorgt außerdem für eine schöne Optik in den Ensembleszenen, die so auch in den hinteren Reihen noch gut zu sehen sind. Die zeitgemäßen Kostüme von Tjark Wölke und das stimmige Lichtdesign komplettieren die hervorragende Show.
Unter der Regie von Maya Fröhlich und Stefan Middendorf ist eine temporeiche Inszenierung ohne Längen entstanden, die von einer spielfreudigen und mit Leidenschaft agierenden Cast getragen wird. Der Mädchenüberschuss bei den Mitwirkenden führt sogar zu einer Anpassung bei den Rollen, die aktueller denn je ist: So wird aus Chris Hargensen und Billy Nolan kurzerhand ein lesbisches Paar, was sich als wesentlich authentischer erweist, als hätte man Billy mit einem Mädchen besetzt, das einen Jungen spielt.
Im Zentrum der Handlung steht Carrie White, die von ihren Mitschülerinnen ausgegrenzt und gemobbt wird. Eine schwierige Rolle, die Jolina Kreyenschmidt bestens anzulegen weiß. So entwickelt sie ihre Carrie vom bibeltreuen, schüchternen Mädchen, das von der Mutter unterdrückt und gedemütigt wird, hin zu einer lebensfrohen und emanzipierten jungen Frau. Selbst die anspruchsvollen Songs meistert sie mit Bravour.
Auch ihr Zusammenspiel mit Laura Deters als Mutter ist sehr gut. Beide Darstellerinnen wirken gut aufeinander eingespielt. Deters müht sich zwar mit den schwierigen Songs ab, punktet aber mit ihrem Schauspiel als gläubige und kaltherzige Mutter, die ihrer Tochter einerseits den Teufel austreiben will und ihr dennoch Liebe schenkt. Diese innige Hassliebe-Beziehung zwischen Mutter und Tochter ist einer der Höhepunkte der Inszenierung.
Die Handlung wird immer wieder durch Videoausschnitte einer Anhörung unterbrochen. Sue Snell, berührend dargestellt von Jilan Artiklar, ist darin zu sehen und muss Fragen zu einer ereignisreichen Nacht beantworten. Ein starkes Paar sind zudem Meggie Bröring als Chris Hargensen und Ela Görgü als Billy Nolan, die hervorragend miteinander harmonieren. Insbesondere Bröring überzeugt dabei schauspielerisch wie gesanglich und ist eine der stärksten Darstellerinnen des Abends, was jedoch ebenso für Laura Fangmann gilt, die für ihre erstklassige Darstellung der Lehrerin Miss Gardner vom Publikum gefeiert wird. Noah Deters hat als einer von nur zwei Jungen in der Cast in der Rolle des Tommy Ross zwar gesanglich zu kämpfen, spielt die Rolle dafür aber durchaus smart und liebenswert.
Was „Carrie“ in Lohne außerdem auszeichnet, sind die von Pia Bröring dynamisch choreografierten Tanzszenen – von diesen gibt es zwar nur wenige, doch sind sie dafür umso effektvoller, was auch auf die kinetischen Tricks und die Bühnentechnik zutrifft. Vor allem das Finale – die Zerstörung, bei der Carrie fliegt – ist äußerst eindrucksvoll und fernab von dem, was man sich unter einer gewöhnlichen Schulaufführung vorstellt. Diese technische und visuelle Brillanz wird nur noch getoppt von den Schülerinnen und Schülern, die in allen Gewerken richtig Bock haben und mit Herzblut sowie Leidenschaft voll bei der Sache sind. Bitte mehr davon!
Text: Dominik Lapp