Herausragend: „Chicago“ in Bonn
Schon vor Beginn der Vorstellung ist der Vorhang offen und gibt den Blick frei auf ein leicht heruntergekommenes Vaudeville-Theater, in dem Gil Mehmert eine zynische Moralgeschichte über Verbrechen, mit denen öffentlicher Ruhm erkauft wird, erzählt. Beim Musical „Chicago“ – Musik von John Kander, Songtexte von Fred Ebb, Buch von Fred Ebb und Bob Fosse – am Opernhaus Bonn erweist sich der gefragte Regisseur wieder einmal als fantastischer Geschichtenerzähler. Das belohnt das begeisterte Publikum im vollbesetzten Saal immer wieder lautstark mit Jubel und Applaus und zum Schluss mit stehenden Ovationen.
Doch der Reihe nach. Wer zuletzt seine Inszenierungen von Musicals wie „Goethe!“ in Bad Hersfeld „Jekyll & Hyde“ oder „Songs for a New World“ in Dortmund gesehen hat, weiß nur allzu gut, dass Gil Mehmert nicht nur ein Händchen dafür hat, starke und homogene Besetzungen zusammenzustellen, sondern es versteht, seine Inszenierungen wunderbar filmisch zu erzählen. Dies ist ihm auch bei „Chicago“ gelungen.
Stellenweise wohl immer wieder an die Verfilmung aus dem Jahr 2002 anlehnend, spielt sich in Mehmerts Inszenierung alles in einem Vaudeville-Theater ab, in dessen Mitte sich eine Drehbühne mit großer Showtreppe befindet. Wie bei der Broadway-Revival-Produktion, ist auch die Jazzband auf der Bühne platziert worden, was den Vaudeville-Charakter zusätzlich unterstreicht. Doch der Regisseur ist nicht nur ein fantastischer Geschichtenerzähler, sondern begeistert gern mit visuellen Kniffen – so zum Beispiel, wenn Bettina Mönch als Velma Kelly ihre Nummer „All that Jazz“ im senkrecht aus dem Bühnenturm herabgelassenen Bett singt.
Das einfache wie funktionale Bühnenbild von Jens Kilian unterstützt sehr gut und hält weitere solcher Kniffe bereit. So kann das in die Drehbühne eingelassene Paragrafenzeichen hochgeklappt werden und dient mal als Anklagebank im Gericht und mal als Schafott. Die Kostüme von Falk Bauer sind an der Mode der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts angelehnt, und insbesondere die paillettenbestickten Showkostüme bieten viel fürs Auge.
Der Showcharakter wird vom Regisseur ohnehin nie außer Acht gelassen. So hat Dionne Wudu als Gefängnisoberaufseherin Mamma Morton eine Doppelrolle, indem sie gleichzeitig als Conférencieuse erzählend durch die Vaudeville-Show führt und deshalb zwischen Glitzer- und Gefängniskluft wechselt. Auch Anton Zetterholm ist als Staranwalt Billy Flynn ein Teil des Vaudvilles und tritt bei der Gerichtsverhandlung als Zauberer auf, der nicht nur Karten und eine weiße Taube aus dem Hut zaubert, sondern auch einen Freispruch für seine Mandantin. Es wird in der Inszenierung immer wieder klargemacht: Alles ist Show und dient nur dem (kurzen) Ruhm.
Als ein echtes Pfund – weshalb wohl die meisten Musicalfans am Premierenabend angereist sind – erweist sich die durchweg fabelhafte Besetzung, die bis in die kleinste Rolle hochkarätig ist. Allen voran erweisen sich Bettina Mönch als Velma Kelly und Elisabeth Hübert als Roxie Hart als enorm starke Leading-Ladys. Mönchs Velma ist nicht nur eine kaltblütige Mörderin, sondern ein Vamp, eine Femme fatale aus dem Bilderbuch, eine jede Szene beherrschende Erscheinung. Die drei Disziplinen des Genres Musical – Tanz, Gesang und Schauspiel – verkörpert Bettina Mönch wieder einmal mit atemberaubender Brillanz.
Elisabeth Hübert steht ihrer Kollegin allerdings in nichts nach. Ihre Roxie bildet ein exzellentes Pendant zu Velma. Hübert überzeugt dabei nicht nur gesanglich, sondern schauspielerisch mit einer ungewohnt komödiantischen Seite. Sie balanciert immerzu perfekt zwischen naivem Blondchen und berechnendem Biest. Diese Roxie Hart möchte man erst knuddeln und dann zum Teufel wünschen. Stark!
Die Rolle des Billy Flynn wurde mit Anton Zetterholm überraschend jung besetzt, was sich als interessanter neuer Ansatz erweist, der ziemlich gut funktioniert. Zetterholm ist nicht der in Nadelstreif gekleidete Best Ager, sondern der aufstrebende junge Staranwalt, dem der Nadelstreif aber nichtsdestotrotz ebenfalls steht. Gesanglich lässt Anton Zetterholm nichts zu wünschen übrig, interessant ist aber vor allem seine schauspielerische Darstellung, wie er den Anwalt nicht nur schmierig und geldgeil gibt, sondern ihm auch eine zeitweise gefährliche und arrogante Note verleiht. Geradezu grandios zeigt er diese Arroganz in der Szene, in der Flynn in seinem Büro in der Badewanne sitzt und von fünf Showgirls massiert und liebkost wird, während er sich mit Amos Hart, dem Mann seiner Mandantin, unterhält.
Als Amos Hart muss Enrico De Pieri ganz schön einstecken. Von der Frau betrogen, von deren Verteidiger belächelt und der Öffentlichkeit als Clown vorgeführt, schafft es De Pieri, trotz seiner wenigen Auftritte, die Herzen des Publikums für sich zu gewinnen. Schauspielerisch zeichnet er das authentische Bild eines treuherzig-schusseligen Ehemanns („Schussel-Dussel-Mann“), gesanglich überzeugt er mit seiner Nummer „Mister Zellophan“. Einen seiner witzigsten Momente hat Enrico De Pieri zum Schluss, wenn Amos sich endlich von seiner Frau lossagt und mutig wie Billy Flynn seine Abgangsmusik fordert – die prompt ausbleibt.
Victor Petersen fasziniert als Klatschreporterin Mary Sunhine mit affektiertem Auftreten und starker Falsettstimme, während sich Dionne Wudu in ihrer Doppelrolle ebenfalls als grandios erweist. So wechselt sie ständig zwischen der Conférencieuse des Vaudeville-Theaters und Mamma Morton, der obersten Gefängnisaufseherin. Gesanglich beeindruckt sie mit ihrer dunkel legierten Jazzstimme, schauspielerisch ist sie absolut mitreißend, wie sich ihre Mamma Morton rührend um ihre Mädchen kümmert – wenn man sie dafür ordentlich bezahlt.
Was bei „Chicago“ außerdem im Fokus steht, ist die Choreografie, die wohl bei kaum einem anderen Musical so zentral wichtig ist. Jonathan Huor schafft es, ohne die Genialität eines Bob Fosse oder einer Ann Reinking zu kopieren, eine eigene Körpersprache für „Chicago“ zu schaffen. Und so greifen Inszenierung und Choreografie perfekt ineinander und bilden eine homogene Einheit.
Nicht weniger wichtig ist bei einem Musical wie „Chicago“ die Musik. Das wird schon deutlich, weil die Jazzband für das Publikum gut sichtbar auf der Bühne platziert wurde. Im Halbkreis auf mehreren Ebenen um die Drehbühne angeordnet, spielt sich die gesamte Handlung im Zentrum der Band ab. Unter der Leitung von Jürgen Grimm werden die Jazzhits von John Kander mit dem nötigen Schwung zum Leben erweckt. Das swingt, das groovt, das hat Stil und macht Spaß – so wie der gesamte Abend.
Text: Dominik Lapp