Brillante Inszenierung: „Chicago“ in Bremerhaven
Es ist verrucht, mörderisch, sexy. Das Musical „Chicago“ ist schon 45 Jahre alt, wird aber immer noch viel zu selten auf deutschsprachigen Bühnen gespielt. Umso erfreulicher, dass es jetzt am Stadttheater Bremerhaven zu sehen ist. Noch dazu in einer brillanten Inszenierung von Felix Seiler, bei der auch die Choreografien von Andrea Danae Kingston exzellent zur Geltung kommen.
Das Duo Seiler/Kingston stand definitiv vor keiner einfachen Herausforderung – und das nicht nur aufgrund der aktuellen Corona-Situation, wo auch auf der Bühne Abstände eingehalten und auf allzu große Ensembleszenen verzichtet werden muss. Nein, die eigentliche Herausforderung bestand darin, mit ihrer Neuinszenierung die Originalinszenierung und -choreografie von Bob Fosse oder auch das großartige puristische Revival von Walter Bobbie (Regie) und Ann Reinking (Choreografie), das zuletzt als UK-Tour in Deutschland gastierte, vergessen zu machen. Und das sei vorweg verraten: Felix Seiler und Andrea Danae Kingston haben genau das geschafft.
In nur wenigen Musicals nimmt die Choreografie so einen handlungsbedeutenden Raum ein wie bei „Chicago“. Auch bei Seiler und Kingston sind Regie und Choreografie fest miteinander verzahnt, jedes einzelne Rädchen im Uhrwerk erweist sich als unverzichtbar. Kingstons präzise abgestimmte Choreografie überrascht mit pfiffigen Ideen und unterstreicht die Handlung nicht nur, sondern treibt sie geradezu voran. Das Ballettensemble des Stadttheaters wird dabei von Kingston keinesfalls geschont, sondern in zahlreiche Szenen integriert.
Felix Seiler begeistert einmal mehr mit einer glänzenden Regieleistung. So zeichnet er nicht nur die Charaktere sehr gut, sondern überrascht mit vielen starken Bildern. Vor allem hat er das Stück aus der Vaudeville-Ecke herausgeholt, so dass es nicht mehr wie eine einfache Nummernrevue daherkommt. Die Szenen gehen so flüssig ineinander über, dass nicht einmal die kleinen Kürzungen auffallen, die nötig waren, um das Stück coronatauglich ohne Pause spielen zu können.
Optisch überzeugt das Musical in einem authentischen Ambiente der 1920er Jahre, für das Hartmut Schörghofer eine Backsteinszenerie geschaffen hat, in der es drei Brücken gibt, die vielseitig eingesetzt werden und so immer wieder neue Handlungsorte entstehen lassen. Bei den Kostümen setzt Julia Schnittger auf Schnittmuster, die der Handlungszeit entsprechen. Dabei sind die Kostüme des Tanzensembles besonders hervorzuheben, aber auch die Kostüme von Velma Kelly und Roxie Hart sowie der Nadelstreif von Billy Flynn erweisen sich als passend und sind hübsch anzusehen.
Was die Besetzung angeht, beweist man in Bremerhaven ebenfalls ein glückliches Händchen. Jasmin Eberl begeistert als dominante Velma Kelly mit wandlungsfähiger, rauchig-jazziger Stimme und einer starken tänzerischen Leistung. Als ebenso fantastisch erweist sich Valentina Inzko Fink in der Rolle der Roxie Hart, die schauspielerisch hervorragend zwischen dem naiven Blondchen und einem zur Selbstüberschätzung neigenden Vamp balanciert und dabei auch noch wunderbar singt und tanzt.
Neben diesem starken Damen-Duo hat es Frank Winkels nicht leicht. Doch er gibt den geschniegelten und nur auf seinen eigenen Vorteil bedachten Anwalt Billy Flynn äußerst smart und mit sicher geführter Stimme. Als resolute, alles bestimmende Mama Marton gewinnt Mona Graw das Publikum mit ihrer Bühnenpräsenz im Handumdrehen, während Mackenzie Gallinger als naiv-unbeholfener Amos Hart wirklich – das ist absolut positiv gemeint – Mitleid erregt und Victoria Kunze als Klatschreporterin Mary Sunshine mit ihrem herrlich affektierten Schauspiel und der hohen Stimmlage die Solistenriege komplettiert.
Das Herzstück von „Chicago“ ist zudem die jazzlaunige Musik von John Kander. Davide Perniceni leitet seine Band leidenschaftlich durch Kanders schwungvolle, abwechslungsreiche Partitur. Als schade erweist sich dabei aber, dass die Musikerinnen und Musiker hinter der Bühne untergebracht wurden und der Ton von dort über Lautsprecher mit ziemlich lausiger Qualität übertragen wird, worunter das Klangerlebnis zeitweise einfach leidet. Drückt man hierbei allerdings ein Auge – oder besser: ein Ohr – zu, bleibt auf der Habenseite ein kurzweiliges Musical in einer brillanten Inszenierung und, natürlich, all that Jazz!
Text: Dominik Lapp