Frische Neuinszenierung: „Chicago“ in Magdeburg
Der Reiz am Theater ist doch, dass man nie weiß, was einen erwartet. Viele mögen das Musical „Chicago“ von John Kander (Musik) und Fred Ebb (Texte) kennen – und man denkt sofort an den Broadway, Bob Fosses unverwechselbare Choreografien, schwarze Kleidchen, Zylinder und „All that Jazz“. So wurde „Chicago“ jahrzehntelang erfolgreich gespielt und gilt bis heute als einer der absoluten Klassiker. Sexy, verrucht, messerscharf. Am Premierenabend auf dem Domplatz in Magdeburg wird einem allerdings sehr schnell klar, dass man es hier mit einem neuen „Chicago“ zu tun hat.
Magdeburg hat das Glück, als eines von wenigen deutschen Theatern eine Neuproduktion des Broadway-Klassikers auf die Bühne bringen zu dürfen. Ein „Chicago“, das zwar auch auf dem Theaterstück von Maurine Dallas Watkins aus den 1920er Jahren beruht, aber seine Thematik in der genialen Inszenierung von Ulrich Wiggers in die nahe Zukunft, ins Jahr 2026, katapultiert. Das sonst für das Musical so typische minimalistische Bühnenbild wird ersetzt durch eine beeindruckende, zehn Meter hohe Justitia und ihre beiden Wachen, die sich als große Steinriesen vor dem Magdeburger Dom erheben und mahnend das Geschehen im Blick behalten. Hier entkommt keiner.
Auf der von Leif-Erik Heine gestalteten Bühne ist ein Gefängnis in Panoptikum-Form angeordnet, wie man es aus amerikanischen Justizvollzugsanstalten kennt. Alle sind ständig und stetig unter Beobachtung. Die Band unter der Leitung von Damian Omansen, bestehend aus Mitgliedern der Magdeburgischen Philharmonie, spielt und swingt in luftiger Höhe am zentralen Punkt und wird zum Teil durch Kameras auf Bildschirme übertragen.
Die Eröffnungsnummer „All that Jazz“ ist eine riesige Shownummer und untermalt eine mit wirbelnden Tänzern überladene Bühne – in ihrer Mitte Velma Kelly als großer Star im Vaudeville-Stil. All das wird live übertragen in die heimischen Wohnzimmer, die Menschheit klebt an ihren Smartphones und Tablets, um sich ja nichts entgehen zu lassen. Das Tanzensemble, unter anderem bestehend aus dem Magdeburger Ballett, besticht durch eine hervorragende Choreografie von Jonathan Huor. Alles ist sehr passend aufeinander abgestimmt und ein Genuss fürs Auge. Und während Velma noch so fleißig singt und tanzt, sieht man Roxie im Schlafzimmer beim Techtelmechtel mit ihrem Liebhaber, das allerdings für beide nicht sonderlich erfreulich ausgeht. Für sie nicht, weil er sich von ihr trennen will, für ihn auch nicht, weil sie ihn erschießt.
Der Zuschauer lernt Roxie bereits sehr früh recht gut kennen, als sie von ihrem Lieblings-Schussel-Dussel Amos singt, der zu Beginn noch den Mord auf sich nimmt, weil er annimmt, seine Frau wurde überfallen. Sandy Mölling gibt Roxie als kleine, naive, aber gewitzte und etwas prollige Blondine, die während ihrer ersten Gesangsnummer aus Frust an der Wodkaflasche hängt und von Liebe und Ergebenheit singt – bis Amos herausfindet, was wirklich geschah. Sandy Mölling zeigt bereits hier ein großes Stimmvermögen, ihre Stimme ist klangschön und sehr ausdrucksstark. Zudem beweist sie, dass sie auch als Schauspielerin absolut glänzt. Alle Augen sind auf sie gerichtet, besonders, als sie verzweifelt erkennt, dass ihr Schussel-Dussel es doch nicht ganz so nett mit ihr meint. Klein aber oho und mit einer fantastischen Bühnenpräsenz.
Für Roxie hilft alles Beten nichts und somit begrüßt sie der berühmte „Zellenblock-Tango“ im Cook County Gefängnis. Die Mörderinnen Liz (Emma Hunter), Annie (Jasmin Eberl), June (Marja Hennicke), Kalina Jukunja (Antania Maksimovich) und Mona (Lara de Toscano) berichten von ihren Taten glaubhaft, knallhart und völlig ohne Reue, wie ihre Männer ihnen zum Teil direkt ins Messer liefen („Ihre Rache war Ehrensache“). Die Nummer hat großen Unterhaltungswert und das Bild der Frauen in JVA-Jogginganzügen erinnert doch mehr an amerikanische Gefängnisserien als an die Urfassung von „Chicago“. Velmas Soloauftritt in dieser Nummer ist geprägt von durchgängiger Eleganz. Marcella Adema verkörpert ihre Velma mit ausdrucksstarker Stimme, klassisch, groß und stolz und scheint nach außen mehr als verzweifelt, als sie ihre Geschichte von dem gespreizten Doppeladler erzählt („Tja, aber sie sahen es kommen, sie warn‘ ja selber Schuld daran“).
Ihren Stolz, ja fast schon Arroganz, behält sich Velma auch, als sie das erste Mal auf Roxie trifft. Hier zeigt sich bereits zu Beginn, dass Marcella Adema und Sandy Mölling ganz wunderbar miteinander harmonieren werden. Alles scheint perfekt aufeinander abgestimmt. Und Velma fragt sich, was soll das kleine Blondchen der großen Königin schon anhaben? Sie ruht sich aus auf ihrer Berühmtheit, ihren Beziehungen nach draußen und ihrem Status im Gefängnis – unter den Frauen, aber auch zu Mama Morton, die sogenannte „Meisterin der Killergirls“.
Dabei ist Carin Filipcic als Mama im rockigen Punkoutfit die Killerqueen herself. Wobei Mama wahrscheinlich das falsche Wort ist, denn die sehr innige, sehr körperliche Beziehung zu ihren Killergirls geht vielleicht doch etwas über die Mütterlichkeit hinaus. Ihr erster Auftritt als Gefängnisaufseherin, hoch oben auf der Justitia, wird jubelnd von den „Küken in ihrem Stall“ begleitet. Im modernen Cook County Jail sind in der oberen Etage auch Männer inhaftiert, was den Szenen eine gewisse Fülle und Authentizität gibt. Dass Carin Filipcic eine der ganz Großen im Musicalgeschäft ist, beweist sie ohne Zweifel auch durch ihre Wandelbarkeit und die Freude an ihrer Interpretation der Rolle („Wenn du gut bist zu Mama, dann hält Mama eben auch zu dir“).
Roxie merkt, dass sie noch so gar keinen Stellenwert im Gefängnis hat und versucht, Amos zu überzeugen, Staranwalt Billy Flynn für sie zu engagieren. Enrico De Pieri gibt einen wundervollen, einfühlsamen Ehemann, der darunter leidet, dass er hauptsächlich Mister Zellophan ist und für alle unsichtbar scheint. Auch hier versucht er, alles für seine Roxie zu tun und merkt viel zu spät, wie sie mit ihm spielt. Als Enrico De Pieri bei dem Song „Mister Zellophan“ die Bühne als einer der wenigen komplett für sich alleine einnimmt, merkt man, dass er eigentlich doch gar nicht so unsichtbar ist. Der ihm gewidmete Applaus ist frenetisch.
Zu Roxies Glück sorgt Billy Flynn tatsächlich dafür, dass ihr Fall im Mittelpunkt der Medien steht und öffentliches Aufsehen erregt. Dániel Rákász ist nicht der klassische schlipstragende Staranwalt à la Richard Gere, sondern erinnert auf den ersten Blick mehr an einen Showmaster als an einen Mann vor Gericht. Aber zu Recht, spielt er doch eine Show nach der anderen und legt seinen Püppchen wie ein Marionettenspieler das Wort in den Mund, wohlwissend, dass sie es auch ausführen, weil sie nur eins von ihm wollen: Ruhm, Reichtum und Freiheit. Ein paar hübsche Geschichten erfinden, die Mitleid erregen und die Sache läuft. Heutzutage sehr viel einfacher als im Chicago der 1920er Jahre – ein Klick, ein Posting, eine Liveschaltung, und man sieht, was man sehen will und kann sich begeistern lassen.
Hierbei werden in Magdeburg ganz geschickt immer wieder Smartphones, Kameras und Tablets eingesetzt, um die manipulierbare Gesellschaft von heute mit ihrer Sensationsgier einerseits, aber auch die Stellung von Selbstinszenierung und Medien andererseits zu verkörpern. Dennoch, jeder Ruhm ist vergänglich – bis etwas Besseres und noch Spannenderes um die Ecke kommt. Und das weiß auch Billy Flynn, der geschickt auf den jeweils gerade fahrenden Zug aufspringt.
Obwohl Dániel Rákász über ungarische Wurzeln verfügt, kann man keine Abstriche am sprachlichen Verständnis machen. Sein Schauspiel ist überzeugend, wirkt schmierig und geleckt, seine Stimme kraftvoll und einnehmend, dazu seine doch etwas gewöhnungsbedürftigen glitzernden Outfits: Ein Schmier-Advokat durch und durch, der ebenfalls den großen Auftritt genießt. Das merkt man bereits bei seinem ersten Auftritt mit dem Song „Ich bin nur für Liebe da“, wo er oberkörperfrei von wirbelnden Tänzerinnen im Glitzerlook umgeben ist.
In der Solistenfolge dürfen aber zwei Personen auf keinen Fall fehlen: Chris M. Nachtigall, der als Conférencier galant und auch mit einem gewissen durchtriebenen Augenzwinkern durch den Abend führt und Gerben Grimmius als Boulevardreporterin Mary Sunshine. Mary Sunshine, die kurz zu Mary Poppins mutiert, als Grimmius über dem Publikum am pinken Schirm hereinschwebt. Das Kleid ist schrill, bunt und ein echter Hingucker, allerdings geht die Rolle in dem großen Spektakel in Magdeburg ein wenig unter. Sie ist häufig präsent, überall funkelt es mal grün oder pink – aber wirklich im Kopf von dem, was Mary Sunshine singt oder spricht, bleibt wenig. Auch der große Überraschungseffekt am Ende, als Mary wortwörtlich die Hüllen fallen lässt, bleibt hinter den Erwartungen zurück.
Die Urfassung von „Chicago“ ist und bleibt besonders, da man als Zuschauer seine Fantasie anregen muss, um vor dem geistigen Auge mehr zu sehen, als nur knapp bekleidete Damen und Herren mit Zylindern. Doch diese neue Version ist erfrischend. Es werden einem eine kreativ, bis ins Detail gestaltete Bühne, farbenfrohe, sehr abwechslungsreiche und sich ständig ändernde Kostüme (Frank Blumauer) und flüssig ineinander übergehende Szenen mit vielen Sprechpassagen auf dem Silbertablett präsentiert.
Diese Inszenierung von Ulrich Wiggers mag auch jenen gefallen, die sich mit der Urfassung sicher schwertun. Der Regie gelingt es, das Publikum in ihren Bann zu ziehen und zu begeistern. Wiggers ist hier, in Zusammenarbeit mit dem Musikalischen Leiter Damian Omansen, ein Meisterwerk gelungen. Er hat es geschafft, andere Schwerpunkte aus „Chicago“ herauszukitzeln, vom ursprünglichen Charakter etwas wegzuführen und dennoch nicht zu verändern. Das Publikum quittiert die Premiere mit Standing Ovations und vereinzelten Bravo-Rufen. Nachdem die Endproben aufgrund der Wetterlage alles andere als glatt verliefen, mag man allen nur ein volles Haus, trockenes Wetter und eine erfolgreiche Spielzeit wünschen.
Text: Katharina Karsunke