Erzählerisch schonungslos: „Dear Evan Hansen“ in Fürth
Musicals über psychische Erkrankungen, Angststörungen, Depressionen, Familienabgründe oder Mobbing sind in der Tat nicht unbedingt Inhalte, die Otto Normalverbraucher bei einem klassischen Theaterbesuch erwarte würde. Doch glücklicherweise finden gerade diese Thematiken ihren Weg langsam, aber sicher ins Rampenlicht, wagen doch immer mehr Theater den Schritt, sich ihnen anzunehmen. Dass das Stadttheater Fürth in Deutschland hierbei die Nase ganz vorne hat, ist mittlerweile kein Geheimnis mehr, und auch die neue Intendanz hat es sich zum Ziel gemacht, dies fortzuführen: In Kooperation mit dem Musicalfrühling Gmunden bringt Fürth die deutsche Erstaufführung des preisgekrönten Broadway-Musicals „Dear Evan Hansen“ (Buch: Steven Levenson, Musik und Gesangstexte: Benj Pasek und Justin Paul, deutsche Übersetzung: Nina Schneider) erstmalig nach Franken. Regie führt, wie auch bereits in Gmunden im Frühjahr 2024, Markus Olzinger. Ein hochemotionaler Abend der Meisterklasse, den man erst einmal verarbeiten muss.
Der amerikanische Teenager Evan Hansen leidet unter Einsamkeit, Angststörungen und Panikattacken und hat von seinem Therapeuten die Aufgabe bekommen, sich selbst motivierende Briefe zu schreiben, um den Tag für seine Verhältnisse gut zu meistern. Einer dieser Briefe gerät in die Hände seines Klassenkameraden Connor Murphy, der sich kurz danach das Leben nimmt. Als dessen Eltern den Brief bei ihrem toten Sohn finden, glauben sie, Evan und er habe eine tiefe Freundschaft verbunden. Zunächst noch dagegenhaltend, gerät Evan immer mehr und mehr in einen Strudel der Selbstverstrickung und Schwindeleien, als er ungeplant eine Rolle annimmt, die er so eigentlich gar nicht annehmen wollte. Eine Rolle, die sein Leben und das Leben seiner Mitmenschen tiefgehend verändern wird.
Das Bühnenbild (Markus Olzinger) wurde nach seinem Umzug von Gmunden nach Fürth auf die hiesigen Begebenheiten angepasst und schmiegt sich äußerst gut in die Umgebung des Stadttheaters ein. Relativ schlicht gehalten, kommt es mit wenigen Umbauten aus und kann somit perfekt die komplexe, tiefgründige Handlung unterstreichen. Fahrbare Wände und ein drehbares Bett- und Regalgestell geben den Rahmen für Evans Jugendzimmer, eine sich stets hebende und senkende Wand öffnet den Raum zur Wohnung der Murphys, in die geschickt auch der Blick in Connors ehemaliges Zimmer verbaut ist. Die Choreografien (Wei-Ken Grosmann-Liao) und Kostüme (Elisabeth Sikora), welche haargenau auf jeden Charakter zugeschnitten sind, unterstreichen dies und sorgen für die passende Atmosphäre. Somit weiß man zugleich, wann man sich in der Highschool in der Schülerschar wiederfindet oder am Abendbrottisch der Murphys Platz nimmt. Licht (Ingo Kelp) und Ton (Roland Baumann, Johannes Schweiger) untermalen die schwierige Thematik auf eine ganz besondere Art und Weise und sorgen durchweg für Gänsehautmomente. Geschickt zum Einsatz kommt eine tragende LED-Wand, die immer wieder als Smartphone-Bildschirm verwendet wird und somit die durchbohrenden Blicke von Evans Klassenkameraden in Übergröße erscheinen lässt.
Getragen wird das Stück von acht brillanten Darstellerinnen und Darstellern, die allesamt durch Charakterstärke und extrem ausdrucksstarke Stimmen überzeugen. Dies ist auch nötig, schließlich bringt die Thematik die notwendige Tiefe und Rollenschärfe mit sich, welche es glaubhaft und mit der richtigen Prise Vorsicht zu transportieren gilt.
Denis Riffel als Protagonist Evan Hansen erweist sich ohne Zweifel als Star des Abends. Wie schon beim Musicalfrühling Gmunden hat er nun bei der Deutschlandpremiere das große Glück, diese begehrte Hauptrolle zu übernehmen und setzt ihr einen wunderbaren eigenen Stempel auf. Gewiss eine Messlatte, die für nachfolgende Interpreten sehr hoch angelegt ist. Was ein wenig abgedroschen klingen mag, bewahrheitet sich mit jeder gespielten Minute: Riffel verkörpert Evan Hansen nicht, er ist Evan Hansen und lebt die Rolle mit jeder Faser seines Körpers. Mehr als großartig gelingt ihm die Darstellung des im Grunde herzensguten Teenagers, dessen Alltag von Attacken und Ängsten getrieben ist. Hierbei gilt es, die Interpretation nicht ins Lächerliche abdriften zu lassen, was sich als hauchdünner Drahtseilakt erweist. Bereits von Sekunde eins ist man gefangen von seiner berührend zerbrechlichen und zugleich starken Stimme, die nicht nur einmal zu zittern beginnt, und seinem hochgradig authentischen Schauspiel, das auf den Punkt genau ausgeführt ist. Ja, fast schon zu authentisch, so dass sicher manche im Publikum manchmal Mühe haben, nicht beschämt wegzusehen.
Die große spürbare Einsamkeit, das Nicht-gesehen-werden und die extremen Unsicherheiten, die Evan zu Beginn mit sich trägt, die seinen Alltag bestimmen und ihn leiden lassen, verbinden sich immer mehr zu gewonnenem Selbstbewusstsein, je weiter die Handlung vorangetrieben wird und je tiefer er sich in seiner neuen Rolle einfindet, die ihm auf einmal Beliebtheit und Aufmerksamkeit schenkt. „Du wirst gehört“ („You will be found“), das Ende des ersten Akts, ist die große Rede, die Evan mutig auf Connors Gedenkfeier hält – eine Erinnerung daran an jede und jeden, nicht allein auf dieser Welt zu sein und nicht alleine seine Schmerzen aushalten zu müssen.
Evans Mutter Heidi (Anne Thorén) versucht stets, an der Seite ihres Sohnes zu stehen und ihn zu unterstützen, doch während Job und die Pflichten als alleinerziehende Mutter sie zu verschlingen drohen, muss sie schmerzlich erfahren, dass Evan ihr immer mehr entgleitet. Als zu ihr durchdringt, dass Evans Fall vom Baum kein Unfall war, sondern er versucht hat, sich das Leben zu nehmen, bricht sie endgültig zusammen. Spielt Heidi doch eher eine Nebenrolle während Evan stets im Mittelpunkt der Handlung steht, rückt sie mit der vorletzten Nummer des Stücks („So groß, so klein“) in das greifbare Zentrum des Geschehens. Anna Thorén gelingt hier ein meisterlicher Ausbruch der Gefühle und eine stimmliche Achterbahnfahrt, als alle versteckten Emotionen, die Heidi während des Stücks stets versucht zu kontrollieren, wortwörtlich aus ihr herausbrechen.
Zoe, Connors Schwester und Evans heimliche Bewunderung, wird äußerst treffend dargestellt von Michaela Thurner. In ihrem jungen Alter gelingt ihr eine bewundernswert präzise, gefühlvolle und sehr charakterstarke schauspielerische Leistung. Der Einsatz ihrer kräftigen und zugleich sehr berührenden Stimme lässt erahnen, wie Zoe im Schatten ihres Bruders, der eigentlich dauerhaft querschlug, stetig leiden musste. Die Eltern, Cynthia (Monika Maria Staszak) und Larry (Yngve Gasoy-Romdal), sind das überzeugende Beispiel einer Familie, in der anscheinend alle Probleme unter den Tisch gekehrt werden. Unbewusst adaptieren sie Evan für ihren eigenen Heilungsfortschritt, als sie ihren Sohn, den sie eigentlich nie richtig greifen konnten und dem sie erst im Verarbeitungsprozess und Lauf der Geschichte wirklich begegnen, neu kennen lernen. Für alle Murphys eine dankbare Gelegenheit, sich mit dem Schmerz der eigenen Vergangenheit auseinander zu setzen und den Hürden der Bewältigung ins Gesicht zu sehen. Sowohl stimmlich als auch schauspielerisch harmonieren Staszak und Gasoy-Romdal äußerst gut miteinander, und man nimmt ihnen sofort das wohlhabend situierte Vorstadt-Ehepaar ab, das nur mühsam in der Lage ist, der Wahrheit ins Auge zu blicken.
Stets begleitet wird Evan von seinen Klassenkameraden Alana Beck und Jared Kleinman. Obwohl beide zunächst versuchen, lässig, cool und beliebt zu wirken und sich betont von Evan distanzieren, springen sie letztendlich auf den Connor-Zug auf, getragen von Sehnsucht nach Aufmerksamkeit und Gesehen-werden – alles versteckt unter dem Denkmantel, etwas Gutes zu tun. Savio Byrczak gibt einen wunderbaren Jared: flippig, amüsant, sympathisch und zugleich nachdenklich und mit dem Wunsch, dazu gehören zu wollen. Auch die Besetzung für Alana scheint mit Vanessa Heinz perfekt. Man kauft ihr die kluge, strebsame, ambitionierte und zugleich einsame Schülerin mit der großen Nerd-Brille zu hundert Prozent ab und lässt mehr als einmal stimmlich aufhorchen, wenn ihre ausdrucksstarke Stimme sich einen Weg durch den Gesang des Ensembles bahnt. Insgeheim hält Alana die Fäden in der Hand und treibt die Handlung voran – ist sie doch diejenige, die das Connor-Projekt stets nach vorn pusht und am Ende Evans Heimlichkeiten auf die Schliche kommt.
Am Ende gilt es Jelle Wijgergangs als Connor Murphy zu erwähnen. Hat er doch wenige Szenen im Alltag der Protagonisten, ist er in deren Gedanken, Erzählungen, Streitigkeiten und nicht zuletzt in den E-Mails, die Jared und Evan erfinden und zurückdatieren, stark überpräsent, ja, beinahe der Katalysator der Handlung. Es ist immer und überall von ihm die Rede – und Wijgergangs ist häufig sichtbar im Spiel. Ihm gelingt ein innerlich selbst zerrissener, getriebener und verzweifelter Charakter, und er schafft es, mit dessen einprägender, ja beinahe aufdringlicher Art, stets schonungslos in den Gedanken aller Anwesenden zu bleiben und diese zu bestimmen.
„Dear Evan Hansen“ ist kein Musical, das Musik benötigt, weil dem Buch die Puste ausgeht. Im Gegenteil – es ist ein Stück, das durch die Musik hervorragend in Szene gesetzt wird, erzählerisch schonungslos, so dass das Publikum erst einmal damit umzugehen lernen muss. Generell wird den szenischen Darstellungen sehr viel Raum gegeben, so dass diese hervorragend ausgespielt werden können, bis es gilt, den nächsten Gedankengang oder die nächste Handlung musikalisch zu vertonen. Das Orchester unter der Leitung von Jürgen Goriup, bestehend aus Streichern, Bass, Piano, Schlagzeug und Gitarren, trägt die poppig-rockige moderne Musik des Erfolgsduos Pasek und Paul („The Greatest Showman“) wunderbar durch den Abend und wird ihr in der Umsetzung mehr als gerecht.
Was bleibt am Ende, nach einer Achterbahnfahrt der Gefühle? Mit der richtigen Prise Humor und Situationskomik, hält die brutal ehrliche Inszenierung von Markus Olzinger der Gesellschaft den Spiegel vor und verdeutlicht einmal mehr, dass Depressionen, Angststörungen, Panikattacken, (Cyber-) Mobbing unter Jugendlichen oder Suizidgedanken Thematiken sind, die ein Wegsehen nicht mehr akzeptieren lassen. In einer Welt, die immer mehr von Sorgen und Ängsten geprägt ist, und in Zeiten, die durch ihre Komplexität einen manchmal zu verschlingen drohen, ist es umso wichtiger, einander zuzuhören, sich gegenseitig anzunehmen, gesellschaftliche Hürden abzubauen, füreinander da zu sein und sich um Hilfe zu bemühen, sofern es möglich ist. Evan Hansen ist es gelungen, im Laufe der Handlung seinen Ängsten Herr zu werden und für sich einzustehen. Die vermeintliche Geschichte um die Freundschaft zu Connor ließ ihn spüren, dass er nicht allein den schweren Weg des Lebens zu gehen hat. Denn tragen wir nicht alle unser Päckchen mit uns? Haben nicht alle etwas, das man vor anderen verbirgt, weil man Angst hat, die Wahrheit zu äußern? Und möchten nicht alle von uns einfach nur angenommen werden und Teil von etwas sein?
In Evans großen Soloszenen ist der Draht zwischen dem Publikum und Darsteller Denis Riffel so eng gespannt, dass man ihn förmlich spüren kann und es kaum auszuhalten ist. Eine Verbindung und eine Magie, die nur das Theater schafft. So spürt man an diesem Abend ganz besonders: „Lass wieder Licht zu dir herein, was auch passiert, du bist nicht allein. Wenn deine Angst dich so verstört, du wirst gehört.“
Text: Katharina Karsunke