„Die Amme“ in Berlin (Foto: Katharina Karsunke)
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Emotionale One-Woman-Party auf höchstem Niveau: „Die Amme“ in Berlin

Als „Romeo und Julia – Liebe ist alles“ unter der Federführung von Peter Plate und Ulf Leo Sommer im Frühjahr 2023 in Berlin uraufgeführt wurde, kristallisierte sich relativ bald heraus, wer – völlig ungeplant – der eigentliche Star dieser Produktion war: Steffi Irmen, in ihrer Nebenrolle als Julias Amme. Sie legte einen Auftritt hin, der seither vergeblich seinesgleichen sucht. Schnell wurde klar: Das ist etwas ganz Besonderes!

Diese Entdeckung sorgte nicht nur dafür, dass Steffi Irmen ihren Platz in der Nachfolgeproduktion „Ku’damm 59“ als Regisseurin Christa Moser fand – man beschloss auch, dass sie als Amme ihre eigene Show bekommen müsse. So wagten sich Plate und Sommer, gemeinsam mit Joshua Lange (Musik), Franziska Kuropka und Lukas Nimscheck (Buch und Regie) sowie Bart De Clercq (Choreografie), an das große Experiment einer One-Woman-Show. Was zunächst als einmalige Vorstellung im Frühjahr 2024 geplant war, schlug ein wie eine Bombe, wurde weiterentwickelt und verfeinert – und ist nun, parallel zur Wiederaufnahme von „Romeo und Julia“, fest im Spielplan verankert: „Die Amme“.

Ein Musical mit nur einer einzigen Darstellerin, dazu in einem großen Theater wie dem Theater des Westens – kann das funktionieren? Und wie das funktioniert! Dabei ist die Storyline so simpel, dass sie gerade dadurch genial wirkt: Die Amme (mittlerweile nicht mehr Amme) trifft nach Julias Tod in Verona als Kellnerin auf William Shakespeare, der sich in ihrer Trattoria niederlässt und darauf brennt zu erfahren, was wirklich in Verona geschehen ist. Warum waren die Montagues und die Capulets zerstritten? Was hatten Romeo und Julia damit zu tun? Und wer trägt die Schuld an ihrem tragischen Tod?

Chronologisch wird das Geschehen aufgerollt: Zunächst noch widerwillig und zurückhaltend, gezeichnet von ihrer Trauer und dem Gedanken, Mitschuld am Tod Julias zu tragen, beginnt die Amme zu erzählen. So viel und intensiv, dass Shakespeare am Ende keine andere Wahl bleibt, als die größte Liebesgeschichte aller Zeiten aufzuschreiben und für die Nachwelt zu verewigen.

Die Inszenierung ist eingebettet in das schlichte, schnörkellose Bühnenbild der parallel laufenden Produktion „Romeo und Julia“: Ein halbrunder, goldverzierter Balustraden-Aufbau, auf dessen Empore die fünfköpfige Band unter der Leitung von Dominik Franke das Geschehen musikalisch rahmt. Mit ausgeklügelten Lichteffekten (Martin Uteß), einem einzigen historischen Kostüm (Andrew D. Edwards) der Protagonistin – das durch Hauben, Schürzen und Blusen variiert wird – sowie wenigen Requisiten wie Stühlen, einem Tisch und Tischtüchern gelingt es, die Szenerie zum Leben zu erwecken. Viel mehr braucht es nicht – aus einem einfachen Grund:

Steffi Irmen schafft es auf fantastische Weise, nicht nur die große Bühne des Theaters zu füllen, sondern auch die hinteren Reihen mühelos zu erreichen. Mehr noch: Die Tische und Stühle werden durch ihre Interaktion zu Requisiten oder Personen. Sogar William Shakespeare, ihr wortloses Gegenüber, wird lediglich durch einen hellen Lichtstrahl auf seinem Stuhl dargestellt. Die gesamte Handlung entspringt Irmens Spiel, denn sie ist eine Künstlerin, die nicht nur ihre eigene Rolle mit Leben erfüllt, sondern gleich ein ganzes Universum erschafft – allein durch ihre Präsenz, ihr Spiel und ihren Gesang. Man vergisst vollkommen, dass hier nur eine einzige Person auf der Bühne steht. Unterstützung gibt es lediglich durch Backing Vocals.

Einige Passagen wirken mitunter leicht langatmig, wenn die Amme sich in Dialogen selbst Rede und Antwort steht. Doch das wird durch Irmens authentische Mimik und ihr beeindruckend facettenreiches Spiel auf allen Gefühlsebenen mehr als ausgeglichen.

„Die Amme“ in Berlin (Foto: sunstroem)

Nach ihrem Erfolg als Amme in einer Nebenrolle darf Steffi Irmen nun in ihrer Solo-Show aus dem Vollen schöpfen – gesanglich wie schauspielerisch. Eine One-Woman-Show als Bühne für ihr gesamtes Können: Sie singt, spielt, steppt – als hinge alles davon ab. Ihren kraftvollen, wunderschönen Sopran setzt sie punktgenau ein: mal poppig und laut, mal zart und berührend, mal rockig und eindringlich, mal klassisch und fein.

Nicht zuletzt liegt das an der klugen Kombination aus Buch (Franziska Kuropka und Lukas Nimscheck) und Musik (Peter Plate, Ulf Leo Sommer und Joshua Lange). Bekannte Rosenstolz-Hits wie „Ich bin ich“, „Liebe ist alles“ oder „Aus Liebe wollt ich alles wissen“ fehlen genauso wenig wie Songs, die Plate und Sommer mit Künstlerinnen wie Sarah Connor geschrieben haben („Vincent“ oder „Wie schön du bist“) – ergänzt durch eigens für „Die Amme“ neu arrangierte Titel wie „Ich will nur sie“ oder „Hallo Julia“. Fans werden mit einem Schmunzeln auch leicht abgewandelte Melodien aus „Romeo und Julia“, „Ku’damm 56“ und „Bibi und Tina“ wiedererkennen. Alle Songs – geprägt von Themen wie Liebe, Gleichheit und Mut – fügen sich berührend und herzerwärmend in die Geschichte ein und werden von der Band kraftvoll intoniert. Gänsehaut garantiert.

Das Publikum erfährt im Laufe der Handlung vieles, was im Original „Romeo und Julia“ verborgen bleibt. Es begegnet einer warmherzigen, liebevollen und ehrlich gezeichneten Protagonistin, die lacht und weint, zweifelt und stolz ist. Durch die wiederholte direkte Ansprache fühlt man sich als Teil ihrer Geschichte – so, als erlebe man ihre Entwicklung hautnah mit.

Die Amme wünscht sich im 16. Jahrhundert gleichberechtigte Liebe, freie Entscheidungen und ein Leben ohne Hass. Der Blick in die Gegenwart zeigt: Unsere Gesellschaft ist diesem Ziel in den letzten 500 Jahren ein gutes Stück nähergekommen – aber es bleibt noch viel zu tun. Noch immer gibt es zu viele Ungerechtigkeiten, zu viel Hetze. Doch Steffi Irmen schafft es für einen Abend, den Traum ihrer Figur Realität werden zu lassen: Dass die Geschichte weitergetragen wird und die Menschen gemeinsam singen – frei von Feindseligkeit.

Das mag kitschig klingen. Ist es aber nicht. Denn das Publikum singt tatsächlich. Es lacht und weint mit der Hauptdarstellerin. Es entsteht ein schützender Rahmen, ein Safe Space, den man in dieser verrückten Welt dringend braucht.

Was sich bei den ersten, frenetisch gefeierten Vorstellungen 2024 andeutete, wird jetzt zur Gewissheit: „Die Amme“ unter der Regie von Franziska Kuropka und Felix Nimscheck ist als One-Woman-Show ein echtes Novum in der Musicalwelt. Eine klare, simple und doch geniale Geschichte, die durch eine einzige, außergewöhnliche Künstlerin interpretiert wird – mit Tiefe, Humor und großer emotionaler Wucht.

Durch den plötzlichen Tod von AnNa R., der ehemaligen Rosenstolz-Frontfrau und engen Freundin Plates und Sommers, erhält der Abend zusätzlich eine emotionale Ebene, die man so nicht erwartet hätte. Denn am Ende geht es um die Liebe – eine Liebe ohne Schuldgefühle, ohne Hass. Es geht um Taten, die aus Liebe vollzogen werden. Es geht um die Unbarmherzigkeit der Liebe, die auch so sehr wehtun kann. „Dieser Abend ist für AnNa“, sagt Peter Plate zum Schluss. Und er hat recht: „Lass es Liebe sein.“

Text: Katharina Karsunke

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Katharina Karsunke ist Sozial- und Theaterpädagogin, hat jahrelang Theater gespielt, aber auch Kindertheaterstücke geschrieben und inszeniert. Ihre Liebe fürs Theater und ihre Leidenschaft fürs Schreiben kombiniert sie bei kulturfeder.de als Autorin.