Bewegend: „Empfänger unbekannt“ auf Tour
Er ist nicht nur ein literarisches Juwel, sondern vor allem von beklemmender Aktualität – der Briefroman „Empfänger unbekannt“ von der amerikanischen Autorin Kathrine Kressmann Taylor. Darin wird das zersetzende Gift des Nationalsozialismus erzählerisch dargestellt, in der szenischen Lesung, die von Luise Schubert inszeniert wurde, wird es sogar greifbar. In den Rollen von Max Eisenstein und Martin Schulse überzeugen dabei Anne-Catrin Wahls und Lorris Andre Blazejewski, Letzterer teilt sich die Rolle je nach Spielort mit Thaddäus Meilinger. Während Meilinger als Martin Schulse vor allem im Berliner Theater unterm Dach zu sehen ist, übernimmt Blazejewski die Rolle bei auswärtigen Terminen, zum Beispiel kürzlich beim Auftritt im Theater Freudenhaus in Essen.
Der Briefroman „Empfänger unbekannt“ ist 1938 erschienen und löste damals einen Sturm der Begeisterung aus. Der darin geschilderte Briefwechsel ist zwar erfunden, enthüllte aber schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt die zerstörerische Wirkung des Nationalsozialismus: Max und Martin sind beste Freunde und betreiben eine lukrative Kunstgalerie im kalifornischen San Francisco. Als Martin 1932 nach München heimkehrt, beginnt eine innige Korrespondenz. Während Max die Neuigkeiten aus Deutschland zunehmend beunruhigen, beginnt Martin eine Parteikarriere und das nationalsozialistische Gift dringt in ihre Freundschaft ein.
Auf der Bühne erleben die Besucher der szenischen Lesung in 18 Briefen und einem Telegramm den Briefwechsel zwischen dem amerikanischen Juden und seinem deutschen Freund und Geschäftspartner. Dafür benötigt es auch nicht viel Ausstattung. Zwei Tische und Stühle, ein großes Radio, eine Stehlampe und wenige Requisiten sind alles, was nötig ist, um das Publikum in das Jahr 1932 mitzunehmen – dazu die zeitgemäßen Kostüme, und die Atmosphäre ist perfekt gelungen.
Als das Stück beginnt, dröhnen zunächst aktuelle Nachrichtenmeldungen rund um die Alternative für Deutschland (AfD) aus dem Radio. Eine Frau und ein Mann lauschen, schlüpfen dann in die Rollen von Max Eisenstein und Martin Schulse. Die Rolle des Max mit einer Frau zu besetzen, ist dabei ein ganz hervorragender inszenatorischer Kniff, um letztlich die Ironie des Schicksals zu verdeutlichen.
Vor allem aber vermisst man keinen Mann in der Rolle des jüdischen Kunsthändlers. Denn Anne-Catrin Wahls beweist in ihrer Rolle eine unglaubliche Wandlungsfähigkeit und schauspielerische Brillanz. Wie sie die Briefe liest, jedes Wort betont, sich Verzweiflung und Erschütterung in ihrem Gesicht widerspiegeln, zeugt von großer Schauspielkunst. Doch Lorris Andre Blazejewski steht ihr in nichts nach. Eindrücklich entwickelt er sich als Martin Schulse vom Judenfreund zu einem vom Nationalsozialismus vergifteten Arier. Das Zusammenspiel von Wahls und Blazejewski ist stark, jeder Blick beim Austausch der Briefe grandios.
Beide Schauspieler schaffen es, vornehmlich durch das Lesen, aber auch durch Mimik und Gestik, die kippende Stimmung in Nazi-Deutschland authentisch zu transportieren. Wenn Wahls die Tränen in die Augen steigen und Blazejewski „Heil Hitler“ brüllt, ist das geradezu markerschütternd – und immer wieder wird einem klar, was für erschreckende Parallelen es zwischen der politischen Stimmung 1932 und heute gibt.
Nach anderthalb Stunden kommt das Ende: Nachdem Max‘ Schwester auf Martins Anwesen von SA-Männern getötet wurde, schreibt Max unbeirrt weiter Briefe an Martin. Dieser fleht ihn an, mit der Korrespondenz aufzuhören, da sein Leben dadurch ernstlich in Gefahr sei. Doch Max schreibt weiter und weiter – bis der letzte Brief im Frühjahr 1934 mit dem Vermerk „Empfänger unbekannt“ zurückkommt. Auch wenn das Schicksal von Martin Schulse am Ende offenbleibt, wird seine physische Vernichtung impliziert. Der willige Verfechter der nationalsozialistischen Weltanschauung scheint zum Opfer seiner eigenen Überzeugung geworden zu sein. Das Bühnenlicht erlischt, und nach einem kurzen Moment der Stille brandet verdientermaßen frenetischer Applaus auf.
Text: Dominik Lapp