Aufwühlendes Kammerspiel: „Fast normal“ in Magdeburg
Alles scheint normal an diesem Morgen bei Familie Goodman. Fast normal. Denn die Stimmung am Frühstückstisch kippt, als Mutter Diana sich Brote schmierend in Wahnvorstellungen verliert. Nicht nur sie selbst, sondern genauso ihre Familie ist von ihrer bipolaren Störung betroffen. Am Theater Magdeburg erzählt Regisseur Tobias Ribitzki mit dem Musical „Fast normal“ (Originaltitel: „Next to Normal“) als aufwühlendes Kammerspiel, wie jedes Familienmitglied der Goodmans nach einem eigenen Ausweg aus der misslichen Lage sucht.
Es ist eine krasse Achterbahn der Gefühle (Buch und Songtexte: Brian Yorkey, Übersetzung: Titus Hoffmann), die Ribitzki auf der riesigen, nahezu leeren Bühne zeigt. Der Opernregisseur, der hiermit sein Musicaldebüt gibt, nimmt mit seiner Inszenierung nicht nur das Genre, sondern auch das Thema rund um psychische Erkrankungen sehr ernst. Dabei stellt er die sechs Charaktere in den Fokus und lässt die vier Herren und zwei Damen so authentische Rollenprofile zeichnen, dass sich das Publikum exzellent in jede einzelne Figur hineinversetzen kann.
Die Bühne von Stefan Rieckhoff ist schwarz, leer und offen, im hinteren Teil leicht schräg, im vorderen nur von den Umrissen des Goodman-Hauses dominiert. Dieses Kammerstück auf der großen Bühne mit so wenig Ausstattung zu zeigen, erweist sich als mutiger wie genialer Kniff von Regisseur und Bühnenbildner. Denn das reduzierte Set ermöglicht es, die Figuren in ihrer Klarheit für sich sprechen zu lassen. Ebenso großartig sind die beiden Ebenen, auf denen Tobias Ribitzki die Story spielen lässt. Die reale Ebene verbindet er mit der Welt der Wahnvorstellungen und Erscheinungen, die durch Gabe Goodman – den im Babyalter verstorbenen Sohn – visualisiert werden.
Dem Publikum bietet sich folglich die Möglichkeit, in Dianas Kopf hineinzuschauen und ihre Perspektive einzunehmen. Durch die große Bühne, den leeren, tiefen, schwarzen Raum wird Dianas innere Leere und Dunkelheit, ihre Haltlosigkeit sehr gut dargestellt. Und dann gibt es da immer wieder diese Szenen, die das allgegenwärtige schwarze Nichts aufbrechen, wenn zum Beispiel eine weiße Tür als Übergang zwischen den beiden Ebenen eingesetzt wird oder Diana ihre bunten Psychopharmaka verstreut, während diese in überdimensionaler Größe von oben auf sie herabflattern. Dabei wird besonders schön deutlich, dass die Kostüme der einzelnen Figuren, für die ebenfalls Stefan Rieckhoff verantwortlich zeichnet, in den gleichen Farben gehalten sind wie die Tabletten.
Für die darzustellenden Charaktere wurden ausschließlich Gäste engagiert. Dabei hat man eine wunderbar miteinander harmonierende Cast zusammengestellt, die der genialen Besetzung in Kassel (wo das Stück zurzeit in einer Inszenierung von Philipp Rosendahl ebenfalls gespielt wird) in nichts nachsteht. Angeführt wird die sechsköpfige Gruppe in Magdeburg von Carin Filipčić, die vor allem im ersten Akt fast pausenlos auf der Bühne ist und das Stück trägt. Sie spielt glaubwürdig, präsentiert Diana mit all ihren Problemen und Zweifeln, Ängsten und Nöten. Alle Gefühle und Verhaltensweisen ihrer Rolle bringt Filipčić mit einnehmender Bühnenpräsenz über die Rampe und fesselt mit ihrem gefühlvollen Mezzosopran.
Mathias Edenborn stellt dazu als Dan einen interessanten Gegenpart dar. Denn er gibt einen schwachen und überforderten Vater, der sich naiv an die Hoffnung klammert, dass alles wieder gut wird, aber mit der Familiensituation nur schwer fertig werden kann. Schauspielerisch wie stimmlich gelingt es Edenborn gut, dieses Bild von Dan zu zeichnen.
Die stimmstarke Karen Müller mimt als Natalie grandios das unsichtbare Mädchen, das neben dem toten und doch immerzu gegenwärtigen Bruder kaum bestehen kann. Sie überzeugt in ihrer Rolle als musikalisches Wunderkind, das von der Mutter kaum beachtet wird und Trost zunächst bei ihrem Freund und später in Drogen findet. Dabei harmoniert Müller auch sehr gut mit Raphael Groß, der seinen Henry liebenswürdig und geradezu schüchtern mit geschmeidiger Stimme anlegt.
Irgendwo zwischen Sarkasmus und nüchterner Betrachtung bewegt sich Lutz Standop als Dr. Fine und Dr. Madden – zwei Rollen, bei denen er schauspielerisch wie gesanglich aus dem Vollen schöpft und die auf den ersten Blick als nicht so wichtig erscheinen, aber genau das Gegenteil sind. Denn beide Ärzte stehen in einer Beziehung zu Diana, reflektieren sie und stellen die Informationen bereit, die das Publikum benötigt, um die Krankheit und deren Auswirkungen einordnen zu können.
Einen enorm wichtigen Part besetzt zudem Lukas Witzel, der für seine hervorragende Darstellung des toten Sohns Gabe völlig verdient gefeiert wird. In den Songs glänzt er mit seinem strahlenden Tenor, in den Szenen hingegen beeindruckt er durch seine Bühnenpräsenz und Körperlichkeit. Als Gabe ist Lukas Witzel konstant dort, wo Diana ist. Dabei wird der Sohn im Verlauf der Handlung immer wütender, fordernder und bedrohlicher, was Witzel phänomenal spielt.
Musikalisch bietet „Fast normal“ erstaunliche Kontraste. Das Stück schwankt zwischen Irrwitz und Tragik, die Songs wechseln ständig zwischen Höhen und Tiefen. Da klingt die Verführung Dianas zum Selbstmord zärtlich und liebevoll, wohingegen der Song „Alles wird gut“ sehr überzeichnet ist. Der familiäre Konflikt spiegelt sich dadurch sehr gut in der Musik von Tom Kitt wider, die von der Magdeburgischen Philharmonie unter der Leitung von Nathan Bas perfekt intoniert wird.
Zum Schluss bleibt die Erkenntnis, dass „Fast normal“ viele Fragen stellt und nur wenige beantwortet. Es bleibt die Erkenntnis, dass Diana und Dan ihrer Tochter Natalie ein normales Leben geben wollten, obwohl insbesondere Diana keinen blassen Schimmer hat, was das überhaupt ist. Es bleibt die Erkenntnis, dass dieses Musical, dieses Stück über das Miteinander innerhalb einer Familie, ein unglaublich emotionales und wertvolles Werk ist, das vom Publikum am Ende zu Recht stehend bejubelt wird. Einziger Wermutstropfen: Es steht in Magdeburg viel zu kurz auf dem Spielplan.
Text: Dominik Lapp