„Follies“ (Foto: Lena Obst)
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Ohne Zweifel eine Bereicherung: „Follies“ in Wiesbaden

Große Broadwayklänge, glitzernde Kostüme und schillernde Revuegirls im frühen 20. Jahrhundert: Nach französischem Vorbild markierten die „Ziegfield Follies“ (benannt nach ihrem Produzenten Florenz Ziegfield Jr.) den Beginn einer glanzvollen Ära und prägten auf charakteristische Art und Weise die Geschichte der amerikanischen Show- und späteren Musicalszene. Das Musical „Follies“ aus dem Jahr 1971 (Buch: James Goldman, Musik und Gesangstexte: Stephen Sondheim, Deutsch: Martin G. Berger) wirft ein Auge auf genau diese Entwicklung und findet in der Spielzeit 2023/24 am Hessischen Staatstheater Wiesbaden unter der Regie von Tom Gerber seinen Weg auf die Bühne des Großen Hauses. Ein Stück, an das man sich in Deutschlands Musicallandschaft doch eher selten heranwagt.

„Follies“ ist kein Musical, das durch eine abwechslungsreiche Handlung besticht, die das Publikum von einem Schauplatz zum nächsten trägt und am Ende mit einem großen Finale auf sich warten lässt. Vielmehr ist es ein Machtwechsel und Geflecht aus schonungsloser Gegenwart und längst Vergangenem, zusammengetragen auf hauchdünnen, zwischenmenschlichen Ebenen in einem eigens dafür geschaffenen Rahmen: dem Wiedersehen der Weisman-Follies an ihrer einstigen Wirkungsstätte längst vergangener Zeiten. Sie alle kommen für einen letzten Abend zusammen, bevor das Theater, in dem sich so manche melancholische Erinnerung verbirgt, abgerissen werden soll. Aufgrund der Vielzahl an Individuen ist man in der ersten halben Stunde damit beschäftigt, alle Protagonistinnen und Protagonisten bei der Ankunft nacheinander kennen zu lernen. Ein etwas langatmiger, tröpfelnder Beginn – und dennoch erhält man dadurch die Möglichkeit und Zeit, ein Gespür für die einzelnen Charaktere zu erlangen und ihnen somit durch das Stück folgen zu können. Nach 30 vergangenen Jahren ist Raum für Erinnerungen, verpasste Wünsche und Sehnsüchte, alte Konflikte, neue Zukunftsgedanken und über allem die große Frage: Habe ich mich in meinem Leben richtig entschieden? Was wäre, wenn?

Es ist der Impresario Dimitri Weismann (Albert Horne) persönlich, der seine ehemaligen Revuegirls und deren Begleitungen im bröckelnden Broadway-Theater willkommen heißt. Ein interessanter Schachzug der Regie, denn Weismann und der Musikalische Leiter Albert Horne verschmelzen hiermit zu einer Figur im Wechselspiel zwischen Bühne und Orchestergraben. Horne, der sonst den Platz unter Musikern sein Zuhause nennt, fügt sich passend in das Geschehen und meistert die Darstellung des gealterten, tattrigen Herrn mit Bravour.

Im Mittelpunkt des Geschehens steht das Quartett aus Sally (Pia Douwes), Phyllis (Jacqueline Macaulay), Buddy (Dirk Weiler) und Ben (Thomas Maria Peters): Zwei Paare in der Midlife-Crisis, mit deren Aufeinandertreffen das Stück an Fahrt aufnimmt. Sally und Phyllis waren Mitbewohnerinnen und Tänzerinnen bei den Weismann-Follies, Buddy und Ben machten ihnen galant den Hof und warteten Abend für Abend am Bühneneingang „auf die Mädels, die oben sind“ („Waiting for the Girls upstairs“).

Mit Pia Douwes hat das Hessische Staatstheater eine äußerst namhafte Darstellerin des deutschsprachigen Musicals für diese Rolle engagiert. Und doch wirkt Sally auf den ersten Blick so ganz anders, als viele der Charaktere, die Douwes in ihrer jahrzehntelangen Karriere bereits zum Leben erwecken durfte. Aufgeregt und leichtfüßig wie die 19-Jährige von damals, trifft ihre Protagonistin als eine der ersten beim großen Wiedersehen ein und sucht verträumt Zuflucht in den alten Erinnerungen und Begegnungen, die sie vergessen lassen, an welcher Stelle sie heute im Leben steht: Erstarrt durch den Alltag und die Ehe mit Buddy, auf ewig verloren in der Liebe zu Ben, der sie letztendlich nie haben wollte. Stimmlich sicher in klangschönem Sopran und wie gewohnt sehr ausdrucksstark und authentisch in Schauspiel und Mimik, erweckt Douwes diesen doch sehr menschlichen und zerbrechlichen Charakter zum Leben und kreiert mit einer Leichtigkeit den schmalen Grat zwischen Verträumtheit und Naivität einerseits, Verbitterung und Verzweiflung andererseits, als sie schlussendlich realisieren muss, dass die Realität sie auch weiterhin gefangen hält. „Ich verlier‘ den Verstand“ („Losing my Mind“) wird von ihr wunderschön bewegend interpretiert und ist ohne Zweifel einer der Höhepunkte des Abends. Nicht umsonst zählt dieser Song zu den größten Sondheim-Nummern aller Zeiten.

„Follies“ (Foto: Lena Obst)

Sally gegenüber steht die selbstbewusste Phyllis. Gemeinsam haben sie den Beginn ihrer Karriere erlebt und erste große Lieben erfahren. Doch auch Phyllis ist nie glücklich geworden und dadurch heute eine unzufriedene, verbitterte Frau, gefangen in den Strängen ihrer Ehe mit Ben. Jacqueline Macaulay gibt eine fantastische Phyllis. Manchmal weiß man als Zuschauer nicht, ob man aufgrund ihres herrlichen Sarkasmus lachen oder doch eher Mitleid fühlen soll, was nicht zuletzt an ihrer großartigen, präzisen Spielweise liegt. Zudem besticht Macaulay, eigentlich bekannt als Schauspielerin, mit einer äußert kraftvollen, melodischen Singstimme, die es spürbar mühelos schafft, die ganze Bühne einzunehmen. Das Zusammenspiel zwischen Douwes und Macaulay verbindet sich in einer unausgesprochenen, allseits unterstreichenden Harmonie, die sich bereits äußert, als ihre beiden Charaktere nach so vielen Jahren erstmals wieder aufeinandertreffen und man als Zuschauer zunächst noch nicht weiß, wie sich die Freundschaft der beiden einordnen lässt.

Buddy (Dirk Weiler) und Ben (Thomas Maria Peters) sind die tragischen Charaktere an der Seite ihrer ehemals berühmten Freundinnen. Buddy, der von Sally nie das Familienglück bekam, das er sich wünschte, sie nicht mehr erreichte und somit Zuflucht bei einer anderen Frau suchte, und Ben, der stets nach Erfolg strebte, um damit zu kompensieren, was ihm unheimlich schwer fällt – die Fähigkeit zu lieben. Hervorragend verstehen es Weiler und Peters, die schicksalhafte Abwärtsspirale ihrer Protagonisten glaubhaft zu interpretieren, stimmlich zu vervollständigen und schaffen somit im Vierergespann eine tiefgehende, mitfühlende Dynamik.

Eine besondere Raffinesse des Buches ist es, stets die Vergangenheit aufleben und für das Publikum authentisch spürbar zu machen. So werden Sally, Phyllis, Buddy und Ben begleitet von ihren jüngeren Charakteren, was für ein genussvolles, nicht immer leicht einzuordnendes Wechselspiel zwischen damals und heute sorgt. Teilweise werden die Protagonisten von ihren Schatten der Vergangenheit umgarnt, teilweise stehen sie miteinander in Interaktion, oder – noch spannender – im Wechselspiel, wenn sie sich an längst vergangene Tage zu erinnern versuchen. Kelly Panier (junge Sally), Larissa Hartmann (junge Phyllis), Niklas Roling (junger Buddy) und Johannes Summer (junger Ben), verstehen es mühelos, ihrem älteren Ich wie ein Schatten zu folgen und dennoch ihre ganz eigene Geschichte zu erzählen. So erfährt das Publikum auf sehr berührende Art und Weise, warum die Liebschaft von Sally und Ben damals in die Brüche ging, und manch einer mag die reife Sally mehr und mehr zu verstehen. Tänzerisch, schauspielerisch und gesanglich hervorragend, kreieren die vier jungen Darstellerinnen und Darsteller einen schützenden Rahmen um ihr gereiftes Ich und machen es auf diese Art und Weise transparent und nachvollziehbar in jeglicher nachfolgenden Handlung.

Doch Sally und Phyllis sind nicht die einzigen Girls, die zu diesem Abend eingeladen wurden. Auch Carlotta (April Hailer), die mit einem großartigen „Bin noch hier“ („I‘m still here“) einen wahrhaft starken und zugleich doch auch sehr zerbrechlichen Divenauftritt hinlegt, Hattie/Stella (Andrea Baker), die mit ihrer wunderbar kräftigen Stimme als funkelnder Inbegriff des Broadways itself fungiert und Solange (Annette Luig), Heidi Schiller (Sharon Kempton, junge Heidi: Elisa Birkenheier) und Emily Withman (Iris Berendt), die ebenfalls zur ehemaligen Star-Riege gehören und in hervorragender Darbietung auf der Treppe der Erinnerungen Platz nehmen.

„Follies“ (Foto: Lena Obst)

Einer der Höhepunkte im ersten Akt ist mit Abstand die Spiegelnummer „Wer ist die denn?“ („Who‘s that Woman?“) – einer der wenigen Momente, in dem die ehemaligen Revuegirls, angeführt von Stella, sich gemeinsam die Bühne teilen. Sie verschmelzen mit ihren jüngeren Ichs und lassen somit zusammen ihre Erinnerungen lebendig werden. Eine Nummer von wahrem Broadway-Charakter und exzellenter, ausgefeilter (Step-)Choreografie (Myriam Lifka), die erahnen lässt, welch Glanz, Glamour und Tradition auf der Geschichte der Ziegfield Follies liegen müssen und nicht umsonst für langanhaltenden Premierenapplaus sorgt. Das Hessische Staatstheater verstärkt das Ensemble ganz hervorragend mit hauseigenem Chor und Statisterie, und immer wieder wird einem als Zuschauer bewusst, welch wunderbare Sättigung man hierbei für Auge und Ohr erfährt.

Das Orchester unter der Leitung von Albert Horne versteht es gekonnt, die anspruchsvolle, clevere Musik Stephen Sondheims zu vertonen und somit das Stück zu tragen. Zum Teil als Untermalung, zum Teil als fantastische Melodien, umschmeichelt Sondheims Komposition die Texte auf ganz besonders zarte Art und Weise. Es sind hier vor allem die Bläser und Streicher, die die wunderbaren Klänge des Broadways lebendig werden lassen und jeden einzelnen Charakter zum Teil jazzig und flott, zum Teil sensibel und melancholisch passgenau begleiten. Musikalisch ist „Follies“ sehr interessant, bewegt sich Sondheim hier doch zwischen den 1920er und 1970er Jahren und lässt somit zwei Welten entstehen, die sich einerseits als Kontrast gegenüber wiederfinden, andererseits wunderbar ergänzen. Nach dem Schlussapplaus verlässt man das Theater nicht mit dem einen typischen Ohrwurm – vielmehr sind es große Melodien und Showmomente, die mit Sicherheit in Erinnerung bleiben werden.

Auch die Kostüme (Jannik Kurz) und Bühne (Bettina Neuhaus) finden sich im Spagat von mehreren Jahrzehnten und wurden sehr liebevoll und detailgetreu an das Zeitalter des Musicals angepasst: Durch das Wiedersehen der Weismann-Girls in den 1970er Jahren wird man Zeuge von Plateauschuhen und Föhnwellen, der Blick in die glanzvolle Vergangenheit bringt hingegen schillernde und zum Teil gewagte, knappe Kostüme sowie authentische Looks der 1940er Jahre mit sich. Das Bühnenbild besteht aus den Grundmauern des Theaters, die bereits mehr als deutlich zu bröckeln beginnen. Dank der passgenau eingesetzten Drehbühne erlebt man ein wunderbares Wechselspiel aus dem vorderen Bereich des Theaters, bestückt mit Bar und Band, und der hinteren, mit Bühneneingang und Garderobe ausgestatteten Backstage-Area. Geschickt werden immer wieder Projektionen (Video: Eduardo Mayorga, Licht: Oliver Porst) eingesetzt, und über allem schwebt in großen goldenen Lettern „Weismann‘s Follies“: es ist der allerletzte, glamouröse Touch.

Das große, sehr erfahrene Ensemble ist sicher ein Grund, warum „Follies“ eher selten auf den deutschen Spielplänen zu finden ist. Die Herausforderung der Regie von Tom Gerber ist es, alle starken Stimmen und spannenden Charaktere, die oftmals nebeneinander agieren, dennoch miteinander in Einklang zu bringen. In Wiesbaden ist dies, trotz ein paar Längen, äußerst gut gelungen. Man spürt die Harmonie des Ensembles und erlebt ein großes, stützendes Vertrauen untereinander. Zudem bedarf es viel Geschick, die einzelnen Handlungsstränge miteinander zu verweben und verständlich zu machen. Auch die Nummer „Loveland“ im zweiten Akt, der Gipfel des nostalgischen, grotesken Strudels an Erinnerungen, ist sicher nicht für jeden im Publikum verständlich. Und dennoch bietet dies einen unverfrorenen Blick auf das zerrissene Seelenleben der Hauptcharaktere.

„Follies“ in Wiesbaden ist ohne Zweifel eine Bereicherung auf den aktuellen Spielplänen. Trotz seiner Tiefe ist es ein Musical, das von einer dankbaren Leichtigkeit zeugt und das neben all den neuen, zeitgenössischen Stücken, die hierzulande ihren Platz auf der Bühne finden und den immer wieder gespielten Shows, die sicher auch ihre Berechtigung haben, seine Nische definitiv bekommen sollte. Denn erzählt es nicht eigentlich das, was uns alle tagtäglich bewegt, aber nicht jeder annehmen kann und möchte? Manch einer mag das Theater am Ende verlassen mit all jenen Fragen im Kopf: Lebe ich eigentlich das Leben, das ich immer leben wollte? Ist aus mir das geworden, was ich mir immer erträumt habe? Habe ich mich damals richtig entschieden? Wenn ich heute etwas ändern könnte, was wäre es dann? Vielleicht hilft ein Stück wie „Follies“, genau das herauszufinden.

Text: Katharina Karsunke

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Katharina Karsunke ist Sozial- und Theaterpädagogin, hat jahrelang Theater gespielt, aber auch Kindertheaterstücke geschrieben und inszeniert. Ihre Liebe fürs Theater und ihre Leidenschaft fürs Schreiben kombiniert sie bei kulturfeder.de als Autorin.