„Frühlingsstürme“ (Foto: Dominik Lapp)
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Kunst und Klamotte: „Frühlingsstürme“ in Berlin

Das Schicksal meint es manchmal übel mit Menschen, aber gleichfalls mit Meisterwerken: Die Operette „Frühlingsstürme“ aus der Feder von Jaromir Weinberger konnte sich nach seiner Premiere gerade einmal 50 Tage im Berliner Admiralspalast halten. Schuld war nicht etwa mangelnder Zulauf, noch weniger die unbestreitbare Qualität der Partitur – im Gegenteil galt der jüdisch-tschechische Komponist seinerzeit zurecht als Erfolgsgarant. Schuld allein war die Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933. Fast auf den Tag genau 87 Jahre später feiert die Operette ihr längst überfälliges Comeback, und abermals wird die Aufführungsreihe, diesmal Corona-bedingt, gestoppt. Man muss der Komischen Oper Berlin entsprechend doppelt dankbar sein: erstens, dass sie „Frühlingsstürme“ dem Vergessen entrissen und erneut auf die Bühne bugsiert hat, zweitens, dass sie, pandemischen Stürmen gegenüber unbeugsam, ihre durch Norbert Biermann rekonstruierte und neu arrangierte Fassung per Internet-Stream zur Verfügung stellt.

Das Haus von General Wladimir Katschalow (Stefan Kurt) ist ohne dessen Wissen zur Hochburg für Spionage und Investigation geworden. Da ist der deutsche Kriegsberichterstatter Roderich Zirbitz (Dominik Köninger), der sich als Koch ausgibt, um heimlich an exklusives Fotomaterial und Insider-Informationen zu gelangen – letztlich aber vor allem Katschalows Tochter Tatjana (Mirka Wagner) den Kopf verdreht. Da ist der japanische Major Ito (Roman Payer), der zusammen mit zweien seiner Waffenbrüder unter dem Deckmantel des ergebenen Dieners die feindlichen Truppenbewegungen auskundschaftet. Und da ist die jungen Witwe Lydia Pawlowska (Vera-Lotte Boecker), an die Katschalow und Ito gleichermaßen ihr Herz verloren haben, ebenso wie Oberst Baltischew (Tilo Lindenberg), Chef des militärischen Geheimdienstes und Vertrauter Katschalows. Drei Männer, hin- und hergerissen zwischen Pflicht und Verlangen: Da steckt viel emotionaler Zündstoff drin.

Tatsächlich gerät die erste musikalische Nummer in der Operette „Frühlingsstürme“, in welcher Ito sein erstes Aufeinandertreffen mit Lydia besingt, sehr viel ernster und sperriger, als es das Sujet vermuten lässt, bildet aber gleichzeitig die dramaturgische Klammer, die dem vermeintlichen Happy End eine bittere Fußnote hinterherschickt. Bis dahin ist es ein weiter Weg, auf dem die ersten Steine aber rasch beiseite geräumt bzw. geglättet werden. Weinberger versteht es gekonnt, russische Folklore, ja: sogar archaisch-asiatische Melodiebögen in zwingende Ensemblenummern zu überführen. Und dieses Erbe wird über weite Strecken vom künstlerischen Leitungsteam sorgsam verschwendet. Jordan de Souza führt das Orchester der Komischen Oper derart geschlossen-schmissig durch den Abend, würden die Kameras nicht ab und an einen Blick in den Graben riskieren, man vergäße schier, welcher Aufwand, schon rein personell, hier betrieben wird. Kantig ohne anzuecken dient sich das Ensemble hinter den Pulten dem Ensemble auf der Bühne an. Angefangen bei den Tänzerinnen und Tänzern, die von Anne Kuhn in herrliche Kostüme und von Barrie Kosky in herrliche Regieeinfälle gekleidet werden: ob als Badminton-Duellanten oder selbst die Schwingen breitend: Federn werden hier nicht gelassen.

Umso weniger bei der Besetzung selbst: Stefan Kurt darf als Katschalow, Dominik Köninger als Zirbitz das persönliche, komödiantische Talent voll ausschöpfen. Ersterer ist nuancenreicher im Spiel und bekommt von Kosky im zweiten Akt, beim Warten auf die Angebetete, ein maßgeschneidertes Slapstick-Solo geschenkt. Dafür besticht Letzterer durch eine Redegeschwindigkeit, bei der dem Zuhörer zuweilen die Luft wegbleibt: Köninger spricht buchstäblich schneller, als sein Zirbitz denken kann – weswegen sich der Kriegsberichterstatter so leicht um Kopf und Kragen quasselt. Roman Payer macht als Ito sowohl im groben Leinen des Bediensteten als auch späterhin, zum Oberst befördert und zum Verhandlungsführer geadelt, im feinen Zwirn eine gute Figur. Noch mit vorgehaltener Waffe erscheint er als Ausbund an Rechtschaffenheit, passt damit offenkundig am besten zu Lydia. Deren reizvolles Waffenarsenal kennt Vera-Lotte Boecker so gut, sie bräuchte wohl kaum zu ziehen, um zu schießen. Und zu treffen. Hinter diesem Quartett bleibt Mirka Wagner als Tatjana zurück – paradoxerweise gerade darum, weil sie zu forsch vorprescht. Ob nun der Regie oder eigenem Übereifer geschuldet: Sie agiert einmal zu oft zu überspannt.

Apropos: Überspannt wird im dritten Akt gleichfalls der Bogen; was zuvor Komödie war, wird unvermittelt Klamauk, Großzügigkeit weicht Vergeudung, die Kunstfertigkeit gerät zur Klamotte. Das letzte Drittel steht so unversöhnlich neben den hundert vorangegangenen Minuten, fast möchte man Absicht unterstellen. Denn obwohl man in Weinbergs gewähltem Schauplatz der Friedensverhandlungen, einem Hotel, schnell in die „Farce-Falle“ tappt, ist diese Gefahr eigentlich zu offenkundig, um sehenden Auges hineinzutappen. So oder so gerät die Aufführung hier ins Stolpern wie die Hotelpagen in der Drehtür – und wird, wiederum durch die Vorlage, aufgefangen: Die Schlusszeile Itos („Du wärst für mich die Frau gewesen…“) lässt ihn und „Frühlingsstürme“ die Kurve kriegen. Nachgerade in letzter Sekunde. Sicher: So manches Spiel wird höher gewonnen. Doch ein Endstand von 2:1 ist immer noch ein glücklicher Gewinn.

Text: Jan Hendrik Buchholz

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Jan Hendrik Buchholz ist studierter Theaterwissenschaftler, Germanist sowie Publizist und lässt in verschiedenen Ensembles und als Solokünstler seit 1992 von sich hören, vorzugsweise eigenes Material. Als Rezensent schrieb er für das Onlinemagazin thatsMusical und die Fachzeitschrift "musicals". Zweieinhalb Jahre lang war er zudem Dramaturg sowie Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Allee Theater Hamburg, anschließend Leiter der Kommunikationsabteilung der Internationalen Händel-Festspiele Göttingen.