„Eine Geschichte aus zwei Städten“ (Foto: Axel Engels)
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Ein langer Abend: „Eine Geschichte aus zwei Städten“ in Münster

Nachdem das Freie Musical-Ensemble Münster sein Publikum bereits im vergangenen Jahr bei „Dracula“ mit einer Spielzeit von drei Stunden auf die Geduldsprobe stellte, wurde jetzt noch mal eine Schippe draufgelegt: Rund vier Stunden dauert das Musical „Eine Geschichte aus zwei Städten“ (inklusive Pause), für das sich das semiprofessionelle Ensemble in diesem Jahr entschieden hat. Es ist ein verdammt langer Abend also, auf den sich das Publikum einstellen muss.

Das Musical „Eine Geschichte aus zwei Städten“ basiert auf dem gleichnamigen Buch von Charles Dickens (der Autor, der auch „A Christmas Carol“ schrieb) und erzählt abwechselnd in Paris und London die Geschichte von Dr. Manette, seiner Tochter Lucie und deren Ehemann Charles Darney inmitten der Französischen Revolution. Die Handlung in dem Musical von Jill Santoriello (Musik, Buch und Songtexte) zieht sich dabei stellenweise wie Kaugummi.

Im zweistündigen ersten Akt geschieht im Vergleich zum wesentlich dichter erzählten zweiten Akt kaum etwas. Erst nach der Pause wird es wirklich spannend: Nachdem sich herauskristallisiert hat, dass der Anwalt Sydney Carton in Lucie verliebt ist, die diese Liebe jedoch nicht erwidert, wird Charles von französischen Revolutionären zum Tode verurteilt. Sydney rettet Charles letztendlich das Leben, indem er für ihn den Platz unter der Guillotine einnimmt.

Musikalisch ist „Eine Geschichte aus zwei Städten“ eine wahre Bereicherung. Dank des rund 50-köpfigen Orchesters unter der Leitung von Ingo Budweg erklingt das symphonische Werk mit unglaublicher Brillanz. Hier wechseln sich große Ensemblenummern mit dramatischen Balladen und gefühlvollen Duetten ab, hier ist der große Herzschmerz in der Musik, wie wir ihn aus Musicals der 1980er Jahre wie „Les Misérables“, „Das Phantom der Oper“ oder „Miss Saigon“ kennen. Es zeigt sich schnell: Allein die Musik und das Orchester sind die Reise nach Münster wert.

Und auch das Bühnenbild von Andreas Strothman und die Kostüme von Constanze Winkler, Anja Stephan und der Schule für Modemacher Münster lassen nichts zu wünschen übrig. Die Hauptbühne dient mal als Taverne oder Friedhof, mal als Garten, Hafen oder als Straße in London oder Paris. Die Ausläufer links und rechts der Bühne dienen als weitere Räume. Dabei werden längere Umbauphasen durch das Orchester geschickt musikalisch überbrückt.

Die Darsteller allerdings geraten immer wieder an ihre Grenzen. Mit „Eine Geschichte aus zwei Städten“ hat sich das Freie Musical-Ensemble Münster ein schwergewichtiges Werk ausgesucht, das alle Mitwirkenden extrem fordert. Lobenswert sind aber der Wille und der Elan, mit dem alle auf der Bühne agieren. Die Darsteller, die das Stück ein Jahr lang in ihrer Freizeit einstudiert haben, bilden eine homogene Einheit, was vor allem den Ensembleszenen zugutekommt. Wenn der Mob in Paris auf die Straße geht, die Trikolore schwenkt und mit lautem Geschrei an der Guillotine steht, so gelingen damit grandiose und markerschütternde Szenen.

Aus der Solistenriege hervorstechen kann vor allem Sarah Blauwitz als Lucie Manette, die mit klangschöner Stimme singt und sicher im Schauspiel ist. Stephan Rinschen steht ihr dabei gesanglich als Sydney Carton in nichts nach, lässt schauspielerisch aber ein wenig die Emotionen vermissen. Und Frank Kasuch hat als Jerry Cruncher anscheinend seine Paraderolle gefunden – die Szenen mit ihm kommen beim Publikum hörbar gut an. Souverän agieren außerdem Julia Hansen als Therese Defarge, Philipp Overfeld als Dr. Alexandre Manette und Canan Toksoy als Miss Pross. Adalbert Sznapka spielt den Marquis St. Evremonde herrlich skrupellos und Ricardo Santos lässt als Charles Darney mit schöner Stimme aufhorchen.

Insgesamt eine gelungene und emotionale Inszenierung, die durch die hörenswerte Musik und das exzellente Orchester besticht und angesichts von Bühnenbild und Kostümen den Vergleich mit Stadttheaterproduktionen nicht zu scheuen braucht. Einziges großes Manko: Das Stück ist einfach zu lang. So verwundert es auch nicht, dass sich „Eine Geschichte aus zwei Städten“ am Broadway zum Flop entwickelte. Jill Santoriello sollte dringend den Rotstift in Partitur und Libretto ansetzen. Das Freie Musical-Ensemble Münster hat dagegen alles richtig gemacht. Chapeau!

Text: Dominik Lapp

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Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".