Opulentes Gesamtkunstwerk: „Der Glöckner von Notre Dame“ in Wien
Erstmalig läuten die Glocken der Pariser Kathedrale Notre Dame auch im Wiener Ronacher, feierte doch dort das Disney-Epos um den buckligen Glöckner Quasimodo aus der Feder von Alan Menken (Musik), Peter Parnell (Buch) und Stephen Schwartz (Liedtexte, deutsche Übersetzung: Michael Kunze) unter der Regie von Scott Schwartz vergangenen Herbst seine umjubelte österreichische Erstaufführung.
Auch die Wiener Version bleibt der zweiten Bühnenversion, die in Deutschland vor einigen Jahren bereits erfolgreich zu sehen war, treu und weist somit eine große Erweiterung des Originals aus dem Jahr 1999 und letztendlich des allseits bekannten Disney-Leinwandklassikers auf. Es wurde ohne Umschweife ein Musical für Erwachsene geschaffen, welches zu seinen Wurzeln, dem weltberühmten Roman von Victor Hugo inhaltlich zurückkehrt und in dem die tragende, bombastische Musik Alan Menkens mit den Liedern aus dem Zeichentrickfilm die wahrscheinlich größte Hauptrolle spielt. Es ist nach „Mary Poppins“ der zweite Disney-Klassiker, der im Ronacher Einzug hält und wahrscheinlich am wenigsten überhaupt mit anderen Disney-Stücken gemein hat.
Im Paris des 15. Jahrhunderts lebt Quasimodo auf seinem Glockenturm zwischen den für ihn lebendigen Steinfiguren und Wasserspeiern, die er seine Freunde nennt. Aufgezogen und vermeintlich beschützt von seinem Ziehvater Erzdiakon Claude Frollo, fristet er sein Dasein verborgen vor der „echten“ Welt hoch über dem Häusermeer der französischen Hauptstadt. Einer der stärksten Momente des Musicals ist mit Sicherheit das gewaltige Opening. „Der Klang von Notre Dame“ eröffnet die Storyline, führt Protagonisten und Ensemble erstmalig zusammen und schöpft vor allem aus der Kraft des sagenhaften Chores (Auswahlchor des Chorverbands Österreich), der sich wie in den Produktionen zuvor auf zwei Etagen und Bühnentürmen innerhalb eines Holzgerüstes befindet und dadurch für das Auditorium stets sichtbar ist. Somit hat das Publikum das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein und sich teils selbst in einer Kathedrale oder auf einer katholischen Messe zu befinden.
Das Holzgerüst ist Teil des fantastischen Bühnenbildes von Alexander Dodge und gibt den beschützenden und umfassenden, aber doch auch zugleich zeitweise bedrohlichen und fast schon erdrückenden Rahmen für das Geschehen: Der Glockenturm, in dem Quasimodo lebt, die Balustrade mit Blick über ganz Paris, der Vorplatz sowie das Innere der Kathedrale, das so genannte Wunderland der Zigeuner* oder die zwielichtigen Gassen der französischen Hauptstadt – bis ins Detail durchdacht, authentisch und einprägend ist die Handlung somit durchgängig stets sehr gut greifbar. Der geschickt gestaltete Einsatz von Bühnennebel, Licht (Howell Binkley) und Sound (Gareth Owen) macht den Showbesuch zu einem einprägenden Erlebnis.
Ein spannender Kniff der Inszenierung ist, dass sich die Erzählerfunktion auf das gesamte Ensemble verteilt und somit in der Geschichte durch das Volk getragen wird. In zeitgemäßen, oftmals sehr farbenfrohen und authentischen Kostümen (Alejo Vietti) führt es in passgenauen Choreografien (Chase Brock) das Publikum geschickt und nachvollziehbar durch die Handlung und bindet es letztendlich in das Geschehen ein. Überhaupt trägt man der Bevölkerung eine äußerst wichtige Rolle zu, wird doch mehr als einmal im Stück deutlich, welch große Macht Volk und Kirche zu den damaligen Zeiten hatten. Aberglaube, Unwissen, Mitläufertum, der Umgang mit Menschen, die anders waren und deren Handlungen man sich nicht erklären konnte – es ist ein dramatischer Strudel, der sich in der Handlung immer schneller zu drehen beginnt und nicht nur einmal während der Vorstellung ein Schaudern über den Rücken jagt.
Quasimodo wird in der besuchten Vorstellung dargestellt von Charles Kreische. Es gelingt ihm mit enormem Talent und Sympathie, den Buckligen zum Leben zu erwecken und die Zuschauenden des Öfteren schmunzeln, aber auch mitfühlen zu lassen. Ein junger Mann, der verborgen, ja versteckt vor dem Volk das Leben eines Außenseiters führt, weil er als missraten gilt und sich trotzdem mit seinem ehrlichen Charakter und seinem großen Herzen einen Weg in die Freiheit kämpft. Mit jeder Bewegung, Gestik und Mimik, aber keinesfalls ins Lächerlich gleitend, zeichnet Kreische ein so präzises Bild seines Protagonisten, dass er nicht umsonst den mit stärksten Applaus des Abends einfährt. Sein kraftvolles, emotionales „Draußen“ zeugt von einer tiefen Sehnsucht und dem Wunsch, endlich akzeptiert und gesehen leben zu können.
Andreas Lichtenberger gibt einen fantastischen Erzdiakon Claude Frollo. Einerseits hervorragend
passend aufgrund seiner Körpergröße und der daraus resultieren Macht und Präsenz, sind es
zudem sein ausgefeiltes Schauspiel und allem vorangestellt der beeindruckende Bassbariton, mit
dem er die Bühne beherrscht. Sein „Feuer der Hölle“ zeugt von einer wahren Stimmgewalt, als er im Zwiespalt von Verlangen und Schuldgefühlen nach Antworten sucht und ist wahrlich einer der Höhepunkte des ersten Akts. Mit einem Disney-Kinderfilm hat dies so gar nichts mehr gemein. Zurück zu seinen Wurzeln, dem Roman von Victor Hugo, war es Regisseur Scott Schwartz wichtig, die dunkle Energie des Romans auf die Bühne zu bringen. Und dennoch lässt Lichtenberger bei seinem Bösewicht menschliche Züge durchblitzen, ist doch auch der Erzdiakon in seiner durchtriebenen, manipulativen Art innerlich zerrissen und letztendlich einsam und verzweifelt, übermannt von menschlichen Gefühlen und seinen eigenen, dunklen Schatten der Vergangenheit.
Die Beziehung zwischen Frollo und Quasimodo gehört mitunter zu den spannendsten des Stücks. Vermeintlich beschützt und bewahrt, erleidet Quasimodo Demütigung und wird in die Abhängigkeit seines Ziehvaters getrieben. Auch in seiner Verbindung zu Esmeralda bleibt Frollo in sich gefangen. Gejagt von seiner eigenen Begierde, ist es ihm nicht möglich, zu seinen Gefühlen zu stehen, weshalb er schließlich durchtrieben und intrigant die Sünde auf Esmeralda projiziert und sie mit dem Tod bestrafen lässt. Esmeralda zeugt von einer wahren Schönheit – innerlich wie äußerlich – und Sina Pirouzi, die man schon aus den vorangegangen deutschen Produktionen des Disney-Klassikers kennt, gelingt genau dieses Ebenbild in Schauspiel und Gesang, aber auch in Tanz und Ausdruck ganz wunderbar. Mit ihrem großen Herzen und der ehrlichen Art schafft Esmeralda es, in Quasimodo den wahren Menschen und den liebevollen Kern hinter der vermeintlich hässlichen, entstellten Fassade zu entdecken und somit eine Verbindung und Wärme zu ihm aufzubauen, die er sonst nie erfahren hat. Unbedingt erwähnt werden muss die sagenhafte, emotionale Interpretation ihrer großen Ballade „Hilf den Verstoß‘nen“. Denn verfolgt, verstoßen und letztendlich verraten zeigt hier, welches Leid Esmeralda wahrhaftig erfahren und erdulden musste und welche Stärke und Liebe zum Leben sie trotz allem aufweist.
Die Rolle des Hauptmann Phoebus de Martin hingegen verblasst fast gegenüber den großen anderen Parts. Doch gelingt es Roy Goldman, ein authentisches Bild zu zeichnen, so dass Phoebus eine spannende Position in der Dreiecksbeziehung mit Quasimodo und Esmeralda einnimmt. Goldman schöpft dankbar aus seinem Gesangsrepertoire und gibt somit der Rolle des Hauptmanns seine eigene persönliche Note. Genannt werden muss auch Matthias Schlung als König der Zigeuner*, Clopin Trouillefou, der einerseits den nötigen Witz und Schelm in die größtenteils schwere Handlung bringt und somit das Geschehen ein wenig amüsanter und leichter wirken lässt, aber auch gleichzeitig mit einem gefährlichen Blitzen in den Augen für Ernsthaftigkeit und Schärfe sorgt. Auch die kleineren Rollen, unter anderem Florika (Sophie Mefan), Madame (Anne Hoth) oder König Louis XI. (Gerben Grimmius) sind hervorragend besetzt und fungieren gemeinsam mit dem Rest des Ensembles als gelungenes Gesamtbild.
Dennoch: Die heimliche Hauptfigur und so gar keine Hintergrundposition wird definitiv dem Chor zugetragen. Eine Stimmgewalt ohnegleichen, die das Publikum regelrecht in die Sessel drückt und das Ensemble herausragend unterstützt. Etwas, das man heute eher von Inszenierungen an Stadttheatern kennt und letztendlich den „Glöckner von Notre Dame“ so besonders macht.
Die symphonische, opulente Musik von Alan Menken in seiner Zusammenarbeit mit Texter Stephen Schwartz, vertont durch das stets erwähnenswerte, sensationelle, äußerst facettenreich aufgestellte Orchester der Vereinigten Bühnen Wien unter der Leitung von Carsten Paap gehört ohne Zweifel zu den beeindruckendsten Musiken, die je für ein Musical komponiert wurden. Tragende, schwermütige Nummern wie das bereits erwähnte Opening nehmen den musikalischen Hauptpart des Stücks ein und sorgen aufgrund des sowohl stimmlich als auch schauspielerisch sehr starken Ensembles und des großartigen Chors, inspiriert von lateinischen Kirchgesängen, für ein klangvolles Erlebnis der Extraklasse. So geht definitiv Musical!
Die aktuelle Wiener Produktion des „Glöckners von Notre Dame“ unter der Regie von Scott Schwartz hat sich zu den Versionen in Berlin, München und Stuttgart aus den vergangenen Jahren nicht wesentlich verändert. Man ist der Erfolgslinie treu geblieben – und dennoch hat Wien es geschafft, diesem Welterfolg seine eigene Note aufzudrücken. Es sind die hochtalentierten Darstellerinnen und Darsteller, die diese Inszenierung zu ihrer eigenen Inszenierung machen. Und es ist das Ronacher, das mit seinem besonderen Flair für einen Abend sorgt, der sicher noch lange in Erinnerung bleiben wird. Es ist eine Geschichte über Ausgrenzung und Demütigung, Flucht, Vertreibung, Zusammenhalt und Liebe. Es ist der „Klang von Notre Dame“.
Text: Katharina Karsunke
* Wir verwenden den Begriff „Zigeuner“ ausschließlich deshalb, weil er so auch in dem Musical verwendet wird, das im Jahr 1482 und somit vor weit mehr als 500 Jahren spielt. Der Begriff ist im Kontext des Stücks als Platzhalter zu verstehen für all diejenigen, die auch heute noch genauso ausgestoßen leben müssen wie Esmeralda in der Geschichte Victor Hugos und die unter denselben Diskriminierungen leiden.