Ein Juwel: „Guercoeur“ in Osnabrück
Was für eine Entdeckung! Der französische Komponist Albéric Magnard dürfte wohl den wenigsten Opern- oder Klassikliebhabern etwas sagen. Erst recht nicht dessen Oper „Guercoeur“. Uraufgeführt in Paris im Jahr 1931, erst 17 Jahre nach dem Tod des Komponisten, verschwand „Guercoeur“ sofort wieder von der Bildfläche und wurde 88 Jahre lang nicht mehr aufgeführt. Auch nachdem es 1986 zu einer CD-Einspielung des Werks unter der Leitung von Michel Plasson mit José van Dam und Hildegard Behrens kam, traute sich kein Opernhaus an dieses Werk, von dem man nach seiner Uraufführung sagte, es sei nicht aufführbar.
Das Gegenteil beweist jetzt das Theater Osnabrück, das „Guercoeur“ nach 88-jähriger Bühnenabstinenz zurückholt auf die Bretter, die die Welt bedeuten. Eine deutsche Erstaufführung, der Medien, Opernintendanten und Opernliebhaber mit großem Interesse entgegenfiebert haben dürften. Kein Wunder, denn schon die Entstehungsgeschichte dieser Oper ist mehr als ungewöhnlich.
So starb Albéric Magnard im Jahr 1914 kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, weil er von deutschen Soldaten erschossen wurde, die anschließend sein Haus in Brand setzten. Dabei verbrannten der erste und dritte Akt des „Guercoeur“. Nur der zweite Akt blieb erhalten. Mithilfe seines Freundes Guy Ropartz, der das Werk Magnards gut kannte und im Besitz eines Klavierauszugs war, konnten aus Fragmenten die beiden verlorenen Außenakte rekonstruiert werden. Doch erst 1931 kam das Werk zur Uraufführung und verschwand danach komplett von der Bildfläche.
In Osnabrück hat sich nun der Regisseur Dirk Schmeding dem oratorienhaften Werk angenommen und eine herausragende Inszenierung geschaffen. Dabei scheint er sich sehr intensiv mit diesem Werk, das die konventionelle Operndramaturgie sprengt, auseinandergesetzt zu haben. Diese vielschichtige Oper beschreibt im ersten Akt die Verhandlung des toten Guercoeur mit allegorischen Figuren von Wahrheit, Güte, Schönheit und Leiden. Im zweiten Akt dann, als Guercoeur aus dem Jenseits zurück auf die Erde geschickt wird, bietet sich dem Publikum ein psychologisches Kammerspiel, das in eine bissige Gesellschaftssatire übergeht, in deren Handlungsverlauf Guercoeur – einst ein mächtiger Herrscher – von seinem Volk ermordet wird.
Im dritten Akt jedoch überrascht Schmeding, weil er den Toten nicht einfach wieder ins Jenseits schickt, sondern die Gegenüberstellung von Diesseits und Jenseits auflöst. Dabei sprengt der Regisseur die vierte Wand und zeigt, was mit einem toten Körper auf der Erde passiert. Wir sehen, wie Rettungssanitäter Guercoeur noch zu retten versuchen, wie sein Sarg verbrannt und schließlich seine Asche in eine Urne gefüllt wird. Das Herzstück dieses dritten Aktes bildet dabei die Arie der Vérité, fantastisch gesungen von Lina Liu, in der die Utopie einer geläuterten Menschheit beschrieben wird, die in einen höheren Bewusstseinszustand aufgeht.
Im ersten Akt zeigt Schmeding den Zuschauern nichts anderes als die hell erleuchteten Köpfe der schwarz gekleideten Solisten (Kostüme: Frank Lichtenberg), die sich auf der leeren schwarzen Drehbühne bewegen (Bühnenbild: Martina Segna), während der Chor aus dem Off singt. Ganze 45 Minuten geht das so, bis das Publikum in die Pause entlassen wird, um anschließend in über zwei Stunden den zweiten und dritten Akt zu erleben. Ein hartes Programm, das Aufmerksamkeit erfordert. Wer diese aufbringt, wird mit grandiosen Bildern, fantastischen Sängern und einer herrlichen Musik belohnt.
In seiner Musik verwendet Albéric Magnard Leitmotive und harmonische Folgen, die an Richard Wagner erinnern. Magnard hat zwar offen zugegeben, dass der Einfluss Wagners stark auf ihn gewirkt habe, doch ist sein „Guercoeur“ keine Wagner-Kopie, weil auch Einflüsse von Bruckner, Franck, Rameau, Gluck und Berlioz deutlich werden. Vor allem aber hat Albéric Magnard die sinfonische Behandlung des Orchesters in seine Oper übernommen und einen heterogenen Musikstil geschaffen. Alle Themenfelder der Handlung sind in ein Geflecht aus – teils sehr romantischen – Leitmotiven gebettet, das vom Osnabrücker Symphonieorchester unter der Leitung von Daniel Inbal exzellent intoniert wird. Inbal schafft es dabei, den am Anfang mit dem Motiv der Souffrance (gesanglich stark: Nana Dzidziguri) gespannten Bogen – mal sanft und mal heroisch – bis zum Schluss zu halten und das Werk nicht zerfallen zu lassen.
Aber nicht nur die Musiker vollziehen beim „Guercoeur“ einen wahren Kraftakt, Rhys Jenkins (der unter anderem schon in „Rigoletto“ und „Der Horla“ begeisterte) tut es ihnen in der Titelrolle gleich. Mit seinem extrem hohen Textanteil kämpft sich Jenkins mühelos durch die drei Akte, begeistert darstellerisch mit hervorragender Bühnenpräsenz und gesanglich mit seinem wohlklingenden, erdigen Bariton. Ihm zur Seite steht Susann Vent-Wunderlich als Guercoeurs Ehefrau Giselle, die mit ihrem voluminösen, schneidenden Sopran sehr gut gefällt.
Costa Latsos verleiht seinem Heurtal mit strahlendem Tenor den zu dem Populisten passenden Ausdruck, während Lina Liu besonders im dritten Akt als Vérité mit ihrer klaren Stimme das Publikum für sich gewinnt. Gesanglich einwandfrei und rollendeckend agieren außerdem Katarina Morfa (Bonté), Erika Simons (Beauté) und Daniel Wagner (L’ombre d’un poète). Darüber hinaus wurde der Chor von Sierd Quarré fabelhaft einstudiert, so dass der oratorienhafte Charakter von Magnards Oper exzellent transportiert wird.
Am Ende gibt es völlig zu Recht stehende Ovationen für eine kreative Inszenierung und erstklassige musikalische sowie gesangliche Leistungen – und für eine Oper, die viel zu lange von der Bühne verschwunden war. Wer sich genauer mit dem Libretto beschäftigt, das ebenfalls aus der Feder des Komponisten stammt, wird zudem erkennen, dass dieses Bühnenwerk noch immer erstaunlich aktuell ist. Nur sechsmal ist der „Guercoeur“ in Osnabrück zu sehen gewesen. Angesichts des großen Medieninteresses und der Anwesenheit einiger Opernintendanten bleibt nun zu hoffen, dass dieses Juwel nicht wieder fast neun Jahrzehnte lang von der Bildfläche verschwindet, sondern künftig auf den Spielplänen anderer Häuser zu finden sein wird. Die Musik Albéric Magnards ist es wert, endlich gespielt zu werden.
Text: Dominik Lapp