In alter Schönheit: „Hänsel und Gretel“ in Hannover
Weltweit öffnet sich jedes Jahr rund um Weihnachten aufs Neue der Vorhang für Engelbert Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel“. An der Staatsoper Hannover begeistert die Inszenierung von Steffen Tiggeler inzwischen mehrere Generationen, denn sie befindet sich seit 1964 im Repertoire und bringt es mittlerweile auf mehr als 500 Vorstellungen. Nach zwei Jahren in einer gekürzten und im Orchester reduzierten Pandemie-Version ist die Märchenoper jetzt endlich wieder in alter Schönheit mit vollem Orchesterklang und Kinderchor zu sehen.
In der von Clara Jansen hervorragend neu einstudierten Tiggeler-Inszenierung steht nicht die Sozialkritik im Vordergrund, sondern das zeitlose Märchen der Brüder Grimm. Dazu passen hervorragend das märchenhaft verträumte Bühnenbild und die Kostüme von Walter Gondolf, der neben dem Häuschen, in dem Hänsel und Gretel mit den Eltern leben, eine wunderschöne Waldlandschaft und ein sehenswertes Lebkuchenhaus gestaltet hat. Als szenischer Höhepunkt erweist sich das Ende des zweiten Bildes, wenn 14 beflügelte Engel in farbenprächtigen Gewändern durch Nebelschwand eine Himmelstreppe hinabsteigen. Ebenso sehenswert sind der Hexenflug, die leuchtenden Tieraugen im Wald, das Ende der Knusperhexe und die Rückverwandlung der Lebkuchenkinder.
So romantisch wie die Inszenierung ist die Musik von Engelbert Humperdinck, die das Niedersächsische Staatsorchester unter der Leitung von Giulio Cilona leidenschaftlich spielt. Die Musikerinnen und Musiker im Orchestergraben bieten den Sängerinnen und Sängern auf der Bühne ein verlässliches Fundament, das stellenweise bloß etwas zu lautstark aus dem Graben schwappt, was die Textverständlichkeit erschwert – deshalb werden die deutschen Texte von Adelheid Wette zusätzlich auf der Übertextanlage eingeblendet. Davon einmal abgesehen, gibt es aber auch viele feinsinnige und klangschöne Passagen, insbesondere immer dann, wenn Cilona das Orchester die filigranen Nuancen und markanten Farbschattierungen der Partitur nachspüren lässt.
Als Hänsel überzeugt Nina van Essen mit ihrem angenehmen Mezzosopran. An ihrer Seite beeindruckt Nikki Treurniet, die mit ihrem warmen, lyrischen Sopran und schönem Timbre eine bezaubernde Gretel gibt. Beide Sängerinnen harmonieren perfekt miteinander und geben so ein glaubhaft kindliches Paar. Iris van Wijnen gefällt mit klaren Spitzentönen als Mutter Gertrud und zeichnet ein Bild von einer Frau, die einerseits unsympathisch wirkt, doch andererseits mit ihrer familiären Situation schlichtweg überfordert ist. Michael Kupfer-Radecky verleiht dem Vater Peter sowohl gesanglich als auch darstellerisch eine starke Kontur und holt das Publikum mit seinem kräftigen Bariton sowie sehr guter Artikulation ab.
Als Knusperhexe beweist Robert Künzli eine außergewöhnliche Bühnenpräsenz sowie Spielfreude und große stimmliche Wandlungsfähigkeit, weshalb er schnell zum heimlichen Publikumsliebling avanciert. Mit ihrem klangschönen Mezzosopran singt Beatriz Miranda die Kinder charmant in den Schlaf, als Taumännchen weckt Eunjeong Song sie mit ihrem lyrischen Sopran wieder auf. Zuletzt nicht unerwähnt bleiben darf der wunderbare Kinderchor der Staatsoper Hannover, der den Lebkuchenkindern Gestalt und Stimme verleiht sowie die Chorpartien sicher meistert. So kann „Hänsel und Gretel“ in Hannover selbst nach fast sechs Jahrzehnten noch immer vollends überzeugen.
Text: Dominik Lapp