Innovatives Meisterstück: „Hamilton“ in Hamburg
In New York und London wird dieses Musical schon seit Jahren ganz heiß gehandelt – jetzt soll „Hamilton“, das gerade im Operettenhaus Hamburg Premiere feierte, Deutschland erobern. Szenen wie aus London kennt man in der Hansestadt allerdings noch nicht: In der britischen Hauptstadt waren Tickets schon rund ein Jahr vor der Premiere ausverkauft, es wurden für das West End teils eher ungewöhnliche Rekordpreise aufgerufen und um Schwarzmarkthändlern einen Riegel vorzuschieben, führte man ein aufwändiges Ticketsystem ein: Eintrittskarten buchte man online, bezahlte mit Kreditkarte und erhielt lediglich eine personalisierte Bestätigungsmail – diese musste am Tag der Vorstellung, nachdem man sich in die Warteschlange vor dem Theater eingereiht hatte, zusammen mit Personalausweis und der Kreditkarte, die für den Bezahlvorgang genutzt wurde, vorgezeigt werden. Erst wenn alles übereinstimmte, wurden vor Ort Platzkarten ausgedruckt und man musste direkt das Theater betreten, um keine Chance mehr zu bekommen, sie vor dem Theater zu verkaufen.
Auch am Broadway ist „Hamilton“ seit seiner Uraufführung im Jahr 2015 sehr gut besucht, war in den ersten Jahren ständig ausverkauft, spielt noch immer wöchentlich rund zwei Millionen Dollar ein, war zwischen 2016 und 2020 sogar das einnahmenstärkste Musical am Great White Way. Es wurde unter anderem nach 16 Nominierungen (Rekord!) mit elf Tony Awards und dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. In London, wo das Stück mittlerweile seit knapp fünf Jahren läuft, zeichnet sich inzwischen ein ähnlicher Erfolg ab. Bei der Verleihung der Olivier Awards im April 2018 ging die Produktion mit 13 Nominierungen ins Rennen und gewann den begehrten Theaterpreis letztendlich in sieben Kategorien.
Ganz klar hat Lin-Manuel Miranda mit „Hamilton“ – ehrlicherweise sogar schon mit dem nicht ganz so populären Vorgängerstück „In the Heights“ – einen innovativen Aufbruch markiert, den Musicalmarkt vielleicht ein Stück weit vom traditionellen Musical wegzubewegen. Weil sich Miranda für einen historischen Stoff moderner Sprache und ebenso moderner Musik und Rhythmen bedient und die amerikanische Geschichte aus dem 18. Jahrhundert durch People of Color erzählen lässt, macht „Hamilton“ einen großen Schritt, das Musicalgenre auch hierzulande zu verändern.
Inspiriert durch Ron Chernows Biografie über Alexander Hamilton (1755-1804), erzählt Lin-Manuel Miranda in seinem Musical die Lebensgeschichte von Hamilton, der als außereheliches Kind auf einer karibischen Insel geboren wurde, nach Amerika auswanderte und dort eine wichtige Figur der amerikanischen Revolution wurde. Während des Unabhängigkeitskrieges stieg er zu George Washingtons oberstem Berater auf, wurde später Finanzminister in der ersten amerikanischen Regierung, gründete die Nationalbank und ebnete den Weg zur Geburt der Vereinigten Staaten von Amerika, bis er in einem Duell den Tod fand.
Das ist gewiss keine leichte Kost und ziemlich viel Geschichtsunterricht, der in dem durchkomponierten Werk in rund drei Stunden durchgepeitscht wird. Was das Stück von anderen Historien-Musicals unterscheidet, ist die Tatsache, dass die Story im Straßenjargon erzählt wird und musikalisch von Hip-Hop, Rap und R’n’B geprägt ist, wobei auch Anleihen aus Jazz und Pop enthalten sind. Zu einer Geschichte, die von rebellierenden jungen Männern handelt, die sich von der britischen Unterdrückung befreien wollen, passt diese besondere Erzählform perfekt.
Wie schon in New York und London, bilden in Hamburg ebenfalls zehn Musikerinnen und Musiker das Orchester. Unter der versierten Leitung von Philipp Gras kommen neben klassischen Instrumenten auch elektronisch-synthetische musikalische Gestaltungsmittel zum Einsatz. Als besonders interessant erweist sich bei der Musik (Orchestrierung: Alex Lacamoire, Arrangements: Alex Lacamoire und Lin-Manuel Miranda), dass den einzelnen Charakteren verschiedene Musikstile zugeordnet sind. So liefern sich Alexander Hamilton, Aaron Burr und Thomas Jefferson starke Rap-Duelle, während den Schuyler-Schwestern Popsongs zugedacht sind, die von King George gesungenen Stücke an Popmusik im Stil der Beatles angelehnt wurden und der Song „Was hab ich verpasst?“ („What’d I miss?“) von Jazz beeinflusst ist.
Genauso treffend wie die Musik, sind die englischen Originaltexte von Lin-Manuel Miranda, die mit so starker Durchschlagskraft im Schnellfeuerstil über die Lippen gehen, dass selbst englische Muttersprachler Schwierigkeiten haben dürften, dem genauen Wortlaut zu folgen. Darunter leidet dann letztlich auch ein wenig die Handlung, weil diese aufgrund des durchkomponierten Erzählstils ausschließlich über die Songtexte erzählt wird und es keine unterstützenden Dialoge gibt. Umso nachvollziehbarer ist es, dass man sich in Hamburg dafür entschieden hat, das mehr als 27.000 Wörter umfassende Libretto auf Deutsch zu übersetzen.
Dazu wurde mit Kevin Schroeder und Sera Finale ein Übersetzer-Duo verpflichtet, das (mit Unterbrechungen) drei Jahre daran gearbeitet hat, die insgesamt 46 Songs zu adaptieren. Dabei mussten sie Dinge wie Metrik, Inhalt, Melodie, Grammatik, Satzbau, aber auch Reimstruktur sowie Wortwitz beachten – und sie haben eine fantastische Arbeit abgeliefert, konnten selbst Querverweise zwischen den Songs, Binnenreime und Wortspiele übertragen und haben immer wieder englische Zitate aus dem Original eingestreut, was nachvollziehbar – wenn nicht sogar genial – ist, da wir doch auch viele englische Begriffe in unsere Alltagssprache übernommen haben. Obendrein ist es eine schöne Hommage an das bahnbrechende Libretto von Lin-Manuel Miranda.
Generell ist die deutsche Übersetzung vielleicht die beste, die je auf einer Musicalbühne hierzulande zu hören war. Wenn aus einer Zeile wie „I imagine death so much it feels more like a memory“ jetzt „Täglich schreibt der Tod zwischen den Zeilen in mein Tagebuch“ wird, ist das zwar recht frei übersetzt, passt jedoch von den Silben, trifft die Aussage perfekt und ist unglaublich poetisch – geradezu on point. Dieser Mix aus Poesie, wortgewordenen Bildern, Treffsicherheit und Singbarkeit zieht sich durch das gesamte Stück, so dass es eine wahre Freude ist, jedes gesungene und gerappte Wort mit den Ohren aufzusaugen und sich am Wortwitz und Ideenreichtum zu erfreuen.
Darüber hinaus haben Kevin Schroeder und Sera Finale in ihren Lyrics Referenzen aus der deutschen Hip-Hop-Szene eingebaut. Wer genau hinhört, findet vier Anspielungen auf Songs von Afrob feat. Ferris MC („Reimemonster), Sabrina Setlur feat. Rödelheim Hartreim Project („Ja klar“), die Fantastischen Vier („Immer locker bleiben“) und STF feat. Kool Savas („Ihr müsst noch üben“).
Das straffe Tempo, das durch Buch und Musik vorgegeben wird, halten auch Regisseur Thomas Kail und Choreograf Andy Blankenbuehler exzellent. Vor allem die berauschende Choreografie mit ihren Hip-Hop-Moves erweist sich als herausragend, denn der von Blankenbuehler gewählte kraftvoll-energiegeladene Bewegungsstil visualisiert jede gespielte Note und jedes gesungene Wort ganz vortrefflich. Dabei nutzt er auch die Möglichkeiten der Drehbühne, die sich pro Sekunde um 20 Grad dreht, hervorragend.
Genial inszeniert sind die Nummern „Kabinett Battle #1“ und „Kabinett Battle #2“, bei denen die vierte Wand durchbrochen wird: Während der Kabinettssitzungen kommt es zu Wortgefechten zwischen Thomas Jefferson und Alexander Hamilton, die erst über die Vor- und Nachteile von Hamiltons Finanzplan und später darüber streiten, ob die Vereinigten Staaten Frankreich in einem drohenden Krieg gegen England unterstützen sollten. Dabei treten sich die Kontrahenten mit Handmikrofonen gegenüber und liefern sich ein Rap-Battle, wie man es zum Beispiel von Rapper Eminem aus dem Film „8 Mile“ kennt.
Die männliche Darstellerriege wird von Benét Monteiro als Alexander Hamilton angeführt, der in große Fußstapfen tritt, weil die Titelrolle in der Anfangszeit am Broadway von Autor und Komponist Lin-Manuel Miranda persönlich gespielt wurde. Aber Monteiro weiß zu überzeugen, spielt seine Rolle leidenschaftlich und doch zurückhaltend, wodurch er ein wunderbares Porträt zeichnet von einem Politiker mit Stärken und Schwächen. In seiner Darstellung zeigt er Hamilton einerseits als Hitzkopf, der viel zu viel redet, weshalb ihm Aaron Burr „talk less, smile more“ rät (übrigens eine Originaltextzeile, die es in die deutsche Fassung geschafft hat). Andererseits gibt Benét Monteiro seinen Hamilton als einen scharfsinnigen und zielstrebigen Politiker, als einen intellektuellen und weitsichtigen Menschen. Auch gesanglich und in den Rap-Parts lässt er aufhorchen.
Gino Emnes steht ihm als Gegenspieler in nichts nach. In der Rolle des Aaron Burr ist er nicht der klassische Bösewicht, sondern eine Art kommentierender Erzähler und fast durchgängig auf der Bühne, wo er jede Szene für sich nutzt. Emnes gibt Burr heuchlerisch sowie hinterhältig und macht seine Songs mit markanter Stimme zu Höhepunkten zahlreicher Szenen. Noch dazu hat er mit „Warte noch“ („Wait for it“) und „In diesem Zimmer“ („The Room where it happens“) zwei der stärksten Nummern zu singen, die er ausgezeichnet interpretiert.
Mit großer Bühnenpräsenz schafft es Charles Simmons als George Washington, die nötige Autorität des Oberbefehlshabers der Kontinentalarmee und späteren ersten US-Präsidenten zu vermitteln, während Jan Kersjes als King George einen ulkigen Scherzkeks gibt, der sich in England überhaupt nicht für die Belange in Amerika interessiert. Für seine äußerst witzig-exaltierte Darstellung – perfekt in Mimik wie Gestik – und seinen tadellos dargebotenen Song „Schon bald“ („You’ll be back“) erntet er viele Lacher und rauschhaften Applaus.
Als Marquis de Lafayette im ersten und Thomas Jefferson im zweiten Akt gewinnt Daniel Dodd-Ellis das Publikum mit starker Stimme und glühendem Schauspiel für sich. Oliver Edward mimt überzeugend zunächst den Soldaten und Politiker John Laurens und fasziniert später mit der empathischen Darstellung von Hamiltons Sohn Philip. Eine geniale Entdeckung in dieser Cast ist überdies der Rapper und Beatmaker Redchild, der sowohl Hercules Mulligan als auch dem späteren vierten US-Präsidenten James Madison ein cooles Profil und eine wunderbar tiefe Stimme verleiht.
Aus der weiblichen Riege stechen Ivy Quainoo als Hamiltons emanzipiert-besonnene Ehefrau Eliza und Chasity Crisp als deren Schwester Angelica Schuyler positiv hervor, die mit ihren eindringlichen Powerstimmen weitere Glanzpunkte setzen. Als dritte im Schwesternbund besticht die großartige Mae Ann Jorolan als Peggy Schuyler, die später den für die Handlung noch wichtigeren Part von Hamiltons Affäre Maria Reynolds übernimmt.
Weiterhin muss an dieser Stelle unbedingt das Ensemble Erwähnung finden, das sich durch wunderschöne und charismatische Frauen und Männer auszeichnet, denen als homogene Gruppe eine unglaublich fesselnde und phonetisch saubere Darbietung gelingt. Wie bei „Hamilton“ zudem Inszenierung, Choreografie, Bühnenbild und Lichtdesign zahnradähnlich ineinandergreifen und wie Mosaiksteinchen ein Gesamtbild erschaffen, ist erstaunlich.
Das Einheitsbühnenbild von David Korins ist zwar einfach gehalten, allerdings sehr funktionell. Es zeigt lediglich Klinkerwände sowie hölzerne Stege und Treppen. Doch durch Möbel und Requisiten, die von den Darstellerinnen und Darstellern bewegt werden, entstehen immer wieder neue Handlungsorte, die nie überladen sind, so dass der Fokus auf den Charakteren bleibt. Hinzu kommen die zeitgemäßen Kostüme von Paul Tazewell, die das Publikum exzellent ins 18. Jahrhundert entführen, sowie das ausgeklügelte Lichtdesign von Howell Binkley, das durch unterschiedliches Kolorit und immer neue Fokussierungen zahlreiche neue Räume schafft.
„Hamilton“ gilt also völlig zu Recht als heiß gehandelte Show – selbst skeptische Personen, die sich vom Stempel des Rap-Musicals abschrecken lassen, sind gut beraten damit, über ihren Schatten zu springen und diesem innovativen Meisterstück in Hamburg eine Chance zu geben. Denn eines ist klar: Nie wurden 30 Jahre amerikanischer Geschichte so cool erzählt.
Text: Dominik Lapp