Welch ein Mut, Mann: „Hedwig and the angry Inch“ in Göttingen
Juli 2018: Hollywood-Star Scarlett Johansson, heterosexuelle Cis-Frau, wird für den Film „Rub & Tug“ gecastet; darin soll sie den Transmann Dante „Tex“ Gill verkörpern, eine Unterwelt-Größe im Pittsburgh der Siebziger und Achtziger. Nach einem Shitstorm aus Richtung der Aktivistinnen und Aktivisten verzichtet sie auf die Hauptrolle.
Juli 2020: Hollywood-Star Halle Berry, heterosexuelle Cis-Frau, erwägt, in einem nicht näher benannten Projekt eine Transgender-Rolle zu übernehmen. Nachdem es Kritik von Seiten der Szene hagelt, gibt sie es auf.
Januar 2023: Schauspieler Volker Muthmann, heterosexueller Cis-Mann, steht als Dragqueen Hedwig auf der Bühne des Deutschen Theaters Göttingen vor einem beeindruckenden Gebirge aus Gitarren-Amps (Bühne: Thomas Rump). Steht dem Haus von Intendant Erich Sidler damit der nächste Sturm der Entrüstung bevor? Immerhin würde er wohlverdiente Aufmerksamkeit auf die großartige Musicalproduktion „Hedwig and the angry Inch“ lenken.
Großartig Muthmann selbst: Gerade weil er sich in seiner Figur gefällt (ein Glück: wie fremdschambehaftet ist jeder Kerl in Kleidern, der sich bestenfalls der eigenen Körperlichkeit kaum bewusst ist beziehungsweise sich ihrer schlimmstenfalls schämt!), erweist er ihrer Tragikomik, ihrem bittersüßen Schicksal den größten Gefallen, changiert dabei gekonnt zwischen Stand-up, Punk-Attitüde und zerbrechlicher Intimität.
Großartig selbstredend die Vorlage von John Cameron Mitchell (Buch) und Stephen Trask (Musik und Songtexte), welche dieses emotionale Bermudadreieck aufspannt. Wer nämlich kritisiert, manch ein Gag sei gar zu flach, übersieht, dass jede Zote Mittel zum Zweck ist, „Part of the Game“ quasi, das mit den Betrachtenden gespielt wird – und dass manch ein Song jede vermeintliche Plattitüde schnell ins tiefe Metaphern-Meer schubst. Wer – wie schon manche Zeuginnen und Zeugen von Hedwigs „Geburt“ am 29.7.1994 in der New Yorker Squeezebox – kritisiert, das Stück irrlichtere unentschlossen zwischen Rockkonzert, Travestie und Theater, hinsichtlich Letzterem sogar noch zwischen den Gattungen Tragödie und Comedy, lässt die emotionalen Fall(höh)en außer acht, die sich dadurch erst auftun: Gerade im Ungefähren trifft uns das „Wahrhaftige“, Konkrete so unvermittelt und hart.
Damit sich dieser Schockmoment vor der Bühne einstellt, braucht es auf der Bühne eine Vertrautheit, die das grundlegende Vertrauensverhältnis zwischen künstlerischer Leitung und Ensemble, das bloße Handwerk also, weit hinter sich lässt. Der kaum 30 Jahre jungen Regisseurin Sarah Kurze gebührt das Verdienst, sie hergestellt zu haben. Alle gehen so selbstverständlich zur Sache und in ihren Rollen auf, fast könnte man hier und da auf die Idee kommen, sie wären tatsächlich just zum zigsten Mal aus dem Tourbus gestiegen und hätten neben Instrumenten und Equipment ihre tagesaktuellen menschlichen Unzulänglichkeiten und zwischenmenschlichen Konflikte im Gepäck. Wenn Ihre (Bühnen-)Partnerin Hedwig ihm gegenüber nicht den richtigen Ton anschlägt, geht Yitzhak (Tara Helena Weiß) seinerseits intonationssicher zur Sache beziehungsweise ihr im Zweifelsfall aus dem Weg – um letztlich treu, duldsam, aller Kapriolen König zurückzukehren. Dafür wird er am Ende belohnt, darf sich seine Perücke auf- und so von Hedwigs einst erlassenem „Dragqueen-Verbot“ absetzen. Hier, im Finale des Abends, offenbart Weiß noch einmal dessen ganze Doppelbödigkeit: Sie ist eine Frau, die einen Mann spielt, der als Dragqueen eine Frau darstellt; tatsächlich aber ist sie in diesem Moment (buchstäblich) bei sich selbst, weil sie (bildlich) ungeschminkt aus der Maske kommt.
Und was ist mit den wütenden 2,54 Zentimeter, Hedwigs Begleitband? Rolf Denecke (Bass), Hans Kaul (Klavier), Sven von Samson (Schlagzeug) unter der Leitung von Michael Frei (Gitarre) geben die gut abgehangene Rocker-Riege, die das tut, was sie am besten kann: Mukken ohne Wimpernzucken. Wie die Formation zu ihrem ungewöhnlichen Namen kam, ist die bittere „Pointe“, zugleich Mittel- und Kipppunkt in Hedwigs Biografie. Dass sie schon auf halber Strecke verraten wird, dass von hier an – man spürt es überdeutlich – Schluss ist mit lustig, allen Launen und Lästereien zum Trotz, tut der Spannung keinen Abbruch, im Gegenteil: Man fiebert dem Moment entgegen, an dem jede Maske fallen, jede Fassade brechen muss. Dass es anders kommt, dass sich alles fügt, ohne dass sich jemand fügen muss, ist ein weiteres Wunder dieses Werks. Hedwig jedenfalls trifft ihre Entscheidung: „See, you’re shinin’ like the brightest star“, singt sie, aller Verkleidung ledig. „Lift up your hands!“ Das Göttinger Premierenpublikum folgt ihr bereitwillig. Leibhaftige Harmonie statt virtueller Misstöne, Demut statt Debatte – das wär’s mal. Aber dazu gehört Mut, Mann!
Text: Jan Hendrik Buchholz