„Hedwig and the angry Inch“ in Saarbrücken (Foto: Martin Kaufhold)
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Rockshow mit Botschaft: „Hedwig and the angry Inch“ in Saarbrücken

Seit Januar 1982 wird in den Räumlichkeiten, wo zuvor der Turnerbund St. Johann sportliche Aktivitäten durchführte, Theater gespielt. Die Alte Feuerwache in Saarbrücken dient als zweitgrößte Spielstätte des Saarländischen Staatstheaters mit bis zu 240 variabel angeordneten Sitzplätzen. Hier werden Schauspiel- und Opernaufführungen, Ballettabende sowie Konzerte präsentiert – und mit „Hedwig and the angry Inch“ nun auch ein ganz besonderes Rockmusical.

Im Fokus der rund anderthalbstündigen Vorstellung steht die schrille Hedwig. Aufgewachsen als Hansel Schmidt in Ost-Berlin, unterzog sich die Chanteuse aus Liebe zu einem GI einer Geschlechtsumwandlung, um durch Heirat der DDR zu entkommen. Doch die Operation ging schief und zurück blieb der „angry Inch“, ein zorniger Fleischstummel, der Hedwig daran erinnert, dass sie vielleicht nie ganz zu einer Seite gehören wird.

In einer Art therapeutischem Gespräch mit ihrem Publikum (Buch: John Cameron Mitchell) feiert Hedwig selbstironisch, dramatisch und beißend komisch nicht nur ihr eigenes Schicksal, sondern auch den Glamrock der Siebzigerjahre. Sie reflektiert über das Gefühl des Nicht-Dazugehörens und die Mischung von Schönheit und Melancholie, die damit einhergeht.

Dargestellt wird die Titelrolle von Lukas Witzel, der den androgynen Charakter perfekt spielt. Witzels Hedwig ist mal aggressiv, mal schrill und mal obszön – und doch so verletzlich. Während der emotionalen Achterbahnfahrt lässt sich Lukas Witzel in seinem Charakter regelrecht fallen. Er rockt, spielt mit dem Publikum, kriecht über den Boden, reitet auf einem überdimensionalen Lippenstift und erweckt Hedwig dadurch eindrucksvoll zum Leben. Darüber hinaus begeistert er gesanglich mit seinem kraftvollen Rocktenor in all den anspruchsvollen Songs von Stephen Trask (Musik und Songtexte), variiert zwischen dreckig-rockigen und zart-emotionalen Tönen.

Veronika Hörmann tritt weniger häufig auf die Bühne, aber wenn sie es macht, begeistert sie mit vielfältiger Stimme. In ihrer Rolle als Yitzhak verkörpert Veronika Hörmann sowohl den unterwürfigen Begleiter von Hedwig als auch den liebevollen Ehemann. Musikalisch durch den Abend getragen werden die Darstellerin und der Darsteller von einer exzellent spielenden Band (Achim Schneider, Jochen Lauer, Marc Sauer, Max Popp).

Die Inszenierung von Tobias Materna, unterstützt durch die Choreografie von Vanni Viscusi, erzählt einfühlsam die Geschichte einer Suchenden, wobei laute und leise Momente gleichermaßen beeindrucken. Das auffällige Bühnenbild und die extravaganten Kostüme von Jan Hendrik Neidert und Lorena Diaz Stephens lenken den Fokus gekonnt auf die faszinierende Hauptfigur.

Insgesamt bietet der konzertähnliche Abend eine eindrucksvolle Rockshow, bei der sich Hedwig aus ihrer selbstgewebten Hülle befreit und in immer neue Charaktere schlüpft. Am Ende erkennt die Chanteuse, dass sie sich selbst lieben und akzeptieren muss. Eine schöne Botschaft.

Text: Christoph Doerner

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Nach seinem Studium der Musiktheaterwissenschaft, einem Volontariat sowie mehreren journalistischen Stationen im In- und Ausland, ist Christoph Doerner seit einigen Jahren als freier Journalist, Texter und Berater tätig.