Seelenrelevant: „In Love with Judy“ in Berlin
In Zeiten wie diesen mag nichts selbstverständlich sein. Schon gar nicht Live-Erlebnisse wie Theater, Konzerte, Musik. Doch die vergangenen Monate haben eins gezeigt: Was wäre die Gesellschaft ohne Kultur? Und der Abend im Tipi am Kanzleramt in Berlin verdeutlicht noch viel mehr: Was wären wir ohne Live-Unterhaltung? Endlich einmal kein Stream und kein Bildschirm, sondern echte Geschichten aus dem Leben und Emotionen, greifbar zum Anfassen, Einatmen, nach Hause mitnehmen. Musik und Kultur sind, wie Katharine Mehrling („Funny Girl“) nachdrücklich sagt, nicht nur systemrelevant (das Wort kann und möchte niemand mehr hören), sie sind „seelenrelevant.“
Auch Mehrling musste ihr Soloprogramm „In Love with Judy“, eine Hommage an die große Hollywood-Ikone Judy Garland, im Mai auf ungewissen Zeit verschieben. Umso dankbarer kann man jetzt sein, dass dieses Konzertjuwel in einer der wichtigsten Kulturstätten Berlins seinen Platz findet – dem Tipi am Kanzleramt. Wo Sommer für Sommer Sally Bowles in „Cabaret“ über die Bühne wirbelt, blieben die Lichter lange aus. Erst vor kurzem erwachte das Tipi wieder zum Leben und erstrahlt in einem neuen, vielleicht auch besonderen Glanz. Wieder ein Theater, das sich hervorragend den Corona-Bedingungen angepasst hat. Trotz aller Einschränkungen ist es von Herzen bemüht, dem Publikum einen unvergesslichen Abend zu bescheren und den Musikern und Künstlern den Weg zurück auf die Bühne zu ebnen. Und wenn es sein muss, mit sexy Plexiglas-Spuckschutz.
Katharine Mehrling ist der strahlende Star des Abends. Ein Name, der als Inbegriff gilt für unvergleichlichen Charme, eine fantastische Stimme, zauberhafte Eleganz, wahre Sympathie und Kunst, die mit voller Hingabe gelebt wird. So beginnt sie ihren Solo-Abend „In Love with Judy“, erfüllt von Freude, Enthusiasmus und getragen durch das Glücksgefühl, nach monatelanger Abstinenz und Unsicherheit wieder auf einer Bühne stehen und für ein Live-Publikum singen zu können. Nachdem Mehrling bereits 2012 das Berliner Publikum mit der Darstellung der Weltikone im Bühnenstück „End of the Rainbow“ am Schlossparktheater verzauberte und große Erfolge feierte, schaffen es nun ihre grandiose, unverwechselbare Stimme und Judy Garlands „Great American Songbook“, einen Hauch der alten, goldenen Hollywood-Zeiten nach Berlin zu bringen. Gefühlvoll erfährt sie in den Songs Judy Garlands Leben – ein Leben, im tiefen Kontrast zwischen Rampenlicht und Schattenseiten, voller Verzweiflung und großer Einsamkeit, aber auch gefüllt von Stärke, Hingabe und Liebe.
Mit charmantem Augenaufschlag und äußerst elegant führt sie durch den Abend und lässt sich dabei dank ihrer siebenköpfigen Band unter der Leitung von Ferdinand von Seebach swingend und jazzig durch die unvergleichlichen Songs der Judy Garland tragen. Es sind die unvergessenen musikalischen Werke wie „Come Rain or come Shine“, „The Man that got Away“ neu arrangiert, dazu plaudert Katharine Mehrling aus dem Leben – und nimmt hierbei kein Blatt vor den Mund. Amüsant „echauffiert“ sie sich darüber, wie man Namen jener Ikone nicht kennen kann, dafür aber weiß, welcher Influencer heutzutage die meisten Follower hat. Auch ihren Plexiglas-Spuckschutz am Mikrofon vergisst sie nicht, ehrwürdig anzupreisen, zu instruieren und ihm einen eigenen Blues zu widmen. Auch wenn es leider sicher für den ein oder anderen nicht zu dem Versprechen kommt, dass sie ausschließlich den Spuckschutz und Chanel No. 5 tragen wird.
Katharine Mehrling und ihre Musiker, das ist eins, das ist Kunst, die gelebt wird. Dazu ihre unvergleichliche, einzigartige Stimme, gefühlvoll, zart, samtig und zugleich verführerisch, extrem wandelbar, rund und warm, mit der nötigen Kraft und mit dem richtigen Timbre. Sie interpretiert und intoniert Judy Garlands unvergleichliche Welthits und die unsterblichen Melodien auf nie dagewesene Art und Weise, mit einer frischen Leichtigkeit und feinen Eleganz, zudem der nötigen Stärke und Tiefgründigkeit. Man mag sich nur ausmalen, wie Garland die Welt in den früheren Jahrzehnten verzaubert haben muss. Katharine Mehrling nimmt die Bühne mühelos für sich ein. Sie zeigt, dass sie genau hier hingehört und dafür lebt, mit ihrer Kunst bis ins Herz zu berühren. Eine Ausnahmekünstlerin.
Stargast an diesem Abend ist Frederike Haas – erst in diesem Jahr in „Ich bin nicht Mercury“ am Berliner Schlossparktheater zu sehen gewesen – mit ihrer ausdrucksstarken Stimme sondergleichen. Und so stehen Haas und Katharine Mehrling zum ersten Mal gemeinsam auf einer Bühne und interpretieren gefühlvoll „Happy Days are here gain / Get Happy“, einst gesungen von Judy Garland und der blutjungen Barbra Streisand. Mit „Over the Rainbow“ aus dem „Zauberer von Oz“ von 1939, Garlands riesigem Welterfolg, schließen sie gemeinsam den Abend nicht ohne das Publikum zum Tanzen aufzufordern. Alles unter dem Schein des Regenbogens, welcher zum Symbol weltweit wurde und mehr denn je darauf aufmerksam macht, dass alle Menschen gleich sind, egal welcher Gesinnung und Sexualität.
„In Love with Judy“ verzaubert und geht mitten ins Herz. Es ist ein kurzweiliger Abend mit einer eindeutigen Aussage: Kultur und Live-Unterhaltung sind unersetzbar! Weil sie die Seele berühren, die Augen glitzern lassen und die Menschen beschenken, so dass sie im Nachhinein noch lange davon zehren werden. Am Ende möchte man gar nicht mehr aufhören zu klatschen, und die vielen Melodien werden sicher noch den einen oder anderen auf dem Heimweg begleitet haben. „Judy makes me smile like I am in Love, in Love with Judy!”
Text: Katharina Karsunke