Genreübergreifend und völkerverbindend: „Istanbul“ in Osnabrück
Sezen Aksu ist eine türkische Poplegende. In dem Theaterstück „Istanbul“, das nicht so recht in eine Schublade passen möchte, weil es genauso Schauspiel wie Liederabend und Musical ist, wird mithilfe von 13 ihrer Songs eine mitreißende Erinnerungsreise zwischen Deutschland und der Türkei erzählt. Am Theater Osnabrück hat „Tatort“-Liebling und IfM-Dozent Roland Riebeling das Stück in einer fantastischen Inszenierung auf die Bühne gebracht, die nun bereits die dritte Spielzeit in Folge zu sehen ist und den Produktionen in Bremen und Bonn optisch sehr ähnlich ist (Bühnenbild: Thomas Rupert, Kostüme: Nini von Selzam).
Unter der Kuppel der Blauen Moschee erzählen fünf Schauspielerinnen und Schauspieler sowie vier Musikerinnen und Musiker eine Gastarbeitergeschichte aus einer gedrehten Perspektive: Das Wirtschaftswunder in den Fünfziger- und Sechzigerjahren hat nicht in Deutschland stattgefunden, sondern in der Türkei. Folglich werden dort die Pforten geöffnet für deutsche Gastarbeitende.
In der immersiven Inszenierung von Roland Riebeling gibt es keine Grenze zwischen Auditorium und Bühne. Beide Räumlichkeiten gehen nahezu fließend ineinander über, Zuschauerinnen und Zuschauer sitzen zum Teil sogar auf der Bühne, tanzen dort mit, der Saal wird bespielt, es werden Chai und Baklava serviert. Wer beispielsweise dem Musical „Moulin Rouge“ mit seinen immersiven Elementen und den Can-Can-Tischen, an denen man mitten im Geschehen sitzt, etwas abgewinnen kann, dürfte sich (für einen Bruchteil des Eintrittspreises!) auch für einen Besuch bei „Istanbul“ begeistern lassen.
In rund zwei Stunden begleiten wir den deutschen Gastarbeiter Klaus Gruber, wie er den Osnabrücker Stadtteil Dodesheide und seine Familie zurücklässt, um in Istanbul auf eine bessere Zukunft hinzuarbeiten. Wir erfahren von Hoffnungen, Ängsten und Träumen in einer tragikomischen Geschichte, die von Selen Kara, Torsten Kindermann und Akin Emanuel Sipal mit der Musik Sezen Aksus verwoben wurde. Auf Deutsch wird von der Lebenssituation der Ausgewanderten erzählt, auf Türkisch die Sehnsucht nach Heimat und Glück besungen, dabei zur zurückhaltend-gelungenen Choreografie von Michael Schmieder getanzt.
Das alles funktioniert sehr gut und äußerst kurzweilig, denn Riebeling – der das Stück bereits in Bonn inszenierte und in Bochum als Klaus Gruber auf der Bühne stand – fängt die Stimmung exzellent ein, klammert dabei aber Politik und Religion aus, was fast ein bisschen schade ist, weil doch Musikerin Sezen Aksu gerade erst im vergangenen Jahr aufgrund einer Liedzeile beim türkischen Staatspräsidenten Erdogan in Ungnade fiel. Der Regisseur allerdings fragt nicht nach den heutigen Zuständen in Istanbul, sondern beleuchtet, wie Deutsche und Türken heute zusammenleben und wie sie mit Liebe und Achtung sowie einem großen Verständnis füreinander zusammenfinden können.
Die vierköpfige Band (Ceren Bozkurt, Ali Alyousef, Benjamin Stein und Jan-Sebastian Weichsel) trägt auf mehreren Instrumenten durch den Abend, lässt türkisches Lebensgefühl irgendwo zwischen Schönheit und schmachtender Sentimentalität erklingen. Die Lieder und melancholischen Texte pulsieren dabei geradezu vor Gefühlen.
Das hohe künstlerische Niveau halten auch die Schauspielerinnen und Schauspieler. Allen voran begeistert Dennis Herrmann, der als Klaus Gruber mit Verve in Schauspiel wie (türkischem!) Gesang überzeugt und das authentische Bild eines Auswanderers zeichnet. Manuel Karadeniz liefert als dessen Sohn Deniz ebenfalls schauspielerisch wie gesanglich eine erstklassige Leistung, Laila Richter gefällt als Luise Gruber und Sascha Maria Icks als Ela sowie Ismail Deniz als Ismet haben sich ihre Rollen ebenso vollkommen zu eigen gemacht.
Spätestens zum Schluss, wenn der Tarkan-Hit „Simarik“ (an dem Sezen Aksu mitgeschrieben hat) erklingt und das mittlerweile stehende Publikum zusammen mit den Mitwirkenden eine große Party feiert, wird deutlich, dass es erschreckenderweise noch immer zu wenige Berührungspunkte zwischen Deutschen und Türken gibt, man viel zu lange nebeneinanderher gelebt hat. Doch mit dem Theaterabend „Istanbul“ ist es offenbar möglich, in diesem Bereich etwas aufzuholen, denn selten hat man so ein bunt gemischtes Publikum im Theater Osnabrück gesehen, das diese unglaublich schöne Geschichte gemeinsam zelebriert. Ein wertvoller Abend, genreübergreifend sowie völkerverbindend und dazu in der Lage, ein völlig neues Publikum zu erreichen. Stark!
Text: Dominik Lapp