„Jesus Christ Superstar“ in den Niederlanden (Foto: Jan Versweyveld)
  by

Gewaltig und immersiv: „Jesus Christ Superstar“ in den Niederlanden

Mehr als 50 Jahre nach der Uraufführung mag man kaum glauben, dass es noch möglich ist, das Musical „Jesus Christ Superstar“ so zu inszenieren, dass es frisch, heutig, mit neuem Blickwinkel und so gewaltig rüberkommt, wie man es wahrscheinlich noch nie zuvor gesehen hat. Die Neuinszenierung von Ivo van Hove, die zurzeit in den Niederlanden auf Tour ist, schafft aber genau das.

Wenn man diese niederländische Produktion – in englischer Sprache mit den Originaltexten von Tim Rice – gesehen hat, möchte man das Stück nur noch so sehen und kann es sich eigentlich nicht mehr an deinem deutschen Stadt- oder Staatstheater ansehen, wo man in der Regel schon mit dem Sound überfordert ist. Ivo van Hove hat „Jesus Christ Superstar“ im Grunde neu erfunden. Das beginnt bei der Besetzung mit PoC-Darstellern in den Rollen von Jesus und Pilatus und endet bei der immersiven Umsetzung.

Wer noch nie in den Niederlanden ein Musical besucht hat, muss wissen, dass Musicals dort in einem anderen System gespielt werden als in Deutschland. Branchenprimus Stage Entertainment betreibt lediglich in Utrecht (Beatrix Theater) und Scheveningen (Circustheater) zwei Theater, in denen Ensuite-Produktionen gezeigt werden. Alle anderen Shows, nicht nur von Stage Entertainment, sondern auch von Veranstaltern wie Albert Verlinde, touren in der Regel durch zahlreiche niederländische Städte, wo sie in den jeweiligen Stadttheatern (Stadsschouwburg) für ein paar Tage gastieren.

Während wir in Deutschland nicht selten Tour-Musicals von zweifelhafter Qualität geboten bekommen, sind die Tourneen in den Niederlanden vergleichbar mit Ensuite-Produktionen, wie sie für mehrere Jahre in einer Stadt laufen. Bei diesen Tour-Produktionen treten die großen Namen der Branche auf, Bühnenbild und Kostüme, Licht und Ton sind auf allerhöchstem Niveau – und so ist es auch bei „Jesus Christ Superstar“.

Diese Produktion aus dem Hause Albert Verlinde strotz nur so vor Qualität. Der Sound (Tom Gibbons) gleicht einem Rock-Konzert, Stimmen und Orchester sind perfekt aufeinander abgestimmt, aus den Lautsprechern dröhnt ein satter, glasklarer Klang, so dass der rockige Score von Andrew Lloyd Webber fantastisch zur Geltung kommt.

„Jesus Christ Superstar“ in den Niederlanden (Foto: Jan Versweyveld)

In seiner Inszenierung setzt Ivo van Hove auf das immersive Erlebnis. So gibt es so genannte Superseats, wie die Sitzplätze direkt auf der Bühne genannt werden, die auf einer Tribüne im Halbkreis um die kreisrunde, leicht erhöhte Spielfläche angeordnet sind. So sitzt ein Teil des Publikums klassisch im Auditorium und ein anderer wird zum Teil der Inszenierung. Diesem Konzept entsprechend, wird auch nicht frontal nach vorn gespielt und gesungen. Vielmehr bewegen sich die Darstellerinnen und Darsteller frei, nehmen mal auf der Tribüne inmitten des Publikums Platz, durchbrechen immer wieder die vierte Wand.

Als großartig erweist sich, dass die 100-minütige Show ohne Pause durchgespielt wird, so dass es keinen Bruch in der Handlung und Musik gibt und das Publikum viel tiefer in die emotionale Ebene eintauchen kann. Beim letzten Abendmahl werden Körbe mit Brot, Becher und Flaschen durch die Reihen der Superseats gegeben, die Besucherinnen und Besucher brechen gemeinsam mit Jesus und seinen Jüngern das Brot und trinken Wein („This is my Blood you drink, this is my Body you eat“). Wenn der Messias zu seinem großen Solo „Gethsemane“ ansetzt, macht er das inmitten des Publikums. Ein echter Gänsehautfaktor.

Obwohl es außer der erhöhten Spielfläche praktisch kein Bühnenbild (Jan Versweyveld) gibt, schafft der Regisseur viele starke Bilder nur durch Regie und Choreografie (Jan Martens) in Verbindung mit einem gelungenen Lichtdesign (Jan Versweyveld).

Deutlich wird das unter anderem im ersten Akt in der Tempelszene, wenn überall gehandelt und gefeilscht wird, viele Banknoten ihre Besitzer wechseln und zahlreiche Scheine auf dem Boden liegen. Eine anrüchige Atmosphäre wird zusätzlich durch Bühnennebel erzeugt. Wenn Jesus mit den Worten „My temple should be a House of Prayer. But you have made it a den of Thieves. Get out! Get out!“ in die Szene tritt und alle aus dem Tempel wirft, fahren drei riesige Hochleistungsventilatoren von oben herab und blasen im wahrsten Sinne des Wortes den Bühnennebel und die Banknoten ins Auditorium – dieses Bild verfehlt seine Wirkung nicht.

„Jesus Christ Superstar“ in den Niederlanden (Foto: Jan Versweyveld)

Dasselbe gilt für die Nummer „Trial before Pilate / 39 Lashes“, bei der sich Jesus und Pilatus fest umarmen, während das Ensemble einen Kreis um das Paar bildet und mit Gürteln die 39 Peitschenhiebe unter spritzendem Blut ausführt. Auch der Selbstmord von Judas wird spannend visualisiert, indem sich dieser unter den mehrfach wiederholten Worten „You have murdered me“ über den Bühnenboden robbt und immer wieder den Oberkörper auf den Untergrund schlägt, so dass sein Hemd sich immer stärker mit Blut verfärbt – bis Judas letztendlich liegen bleibt.

Neben all der optischen und inszenatorischen Brillanz lebt diese Produktion außerdem von der hervorragenden Cast. Hier hat man zunächst mal mit dem surinamischen Sänger, Songwriter und niederländischen ESC-Teilnehmer Jeangu Macrooy einen extrem starken Jesus gecastet, der nicht nur optisch ein frisches Bild des Messias zeichnet, sondern sich die Rolle gesanglich und schauspielerisch zu eigen gemacht hat. So schafft er es, den so oft gehörten Songs der Show durch seine Artikulation ein neues musikalisches Gesicht zu verleihen. Gerade noch erinnert er mit seiner tiefen Interpretation an Reggae, um gleich darauf ganz hohe Töne anzuschlagen. In einer regelrechten Seelenschau schmettert Macrooy all die Ängste und Zweifel seiner Figur ins Auditorium.

Magtel de Laat gibt eine junge, unbeschwerte Mary in schwarzer Lederhose und einem weißen Spitzenoberteil mit durchschimmerndem BH (Kostüme: An D’Huys). Sie überzeugt mit ihrem einfühlsamen Schauspiel genauso wie mit ihrer unglaublich schönen Stimme. Als Höhepunkt erweist sich ihre Interpretation des Songs „I don’t know how to love him“, den sie nicht wie eine weichgespülte Pop-Ballade heruntersingt. Vielmehr verleiht sie der Nummer eine spannende Blues- oder Jazz-Note mit einigen „dirty Tones“, also schmutzig-röhrenden Tönen, was für einen stärkeren Ausdruck sorgt. Fantastisch!

Lucas Hamming glänzt als Judas mit seiner rauen Rockröhre und bringt die innere Zerrissenheit seines Charakters glaubwürdig rüber. Gesanglich wie schauspielerisch genial gibt Edwin Jonker seinen Pilatus, während Richard Spijkers als Caiaphas mit seinem dunkel legierten, sehr erdigen Bass begeistert. Mit seiner eloquenten Tenorstimme bildet Jules Avery als Annas das perfekte Gegenstück dazu. Für die Rolle des schillernden König Herodes wurde der niederländische Moderator und Komiker Paul de Leeuw verpflichtet, der in seinem schwarzen Anzug optisch zwar ganz schlicht auftritt, aber mit seinem subtilen Humor das Optimum aus der Rolle und seinem kurzen Auftritt herausholt. Komplettiert wird die solistische Riege durch Tim Stuart als Simon und Gino Korsèl als Peter, die stimmlich ebenfalls beeindrucken.

Zum Schluss wird auf die übliche Kreuzigung verzichtet. Stattdessen stirbt Jesus inmitten eines Mobs, der den toten Körper schließlich zu den Klängen von „John 19:41“ über die Bühne trägt. Blackout. Standing Ovations.

Text: Dominik Lapp

Dominik Lapp ist ausgebildeter Journalist und schreibt nicht nur für kulturfeder.de, sondern auch für andere Medien wie Lokalzeitungen und Magazine. Er führte Regie bei den Pop-Oratorien "Die 10 Gebote" und "Luther" sowie bei einer Workshop-Produktion des Musicals "Schimmelreiter". Darüber hinaus schuf er die Musical-Talk-Konzertreihe "Auf ein Wort" und Streaming-Konzerte wie "In Love with Musical", "Musical meets Christmas" und "Musical Songbook".