Ein starkes Stück: „Kinky Boots“ in Hamburg
Das ist doch mal ein starkes Stück – da steht bei „Kinky Boots“ der Name Cyndi Lauper drauf, aber drin sind nicht etwa die größten Hits der Popikone, sondern neue Songs, die sie eigens für ihr erstes Musical geschrieben hat. Mit „Kinky Boots“ hat also kein lieblos zusammengezimmertes Jukebox-Musical im Hamburger Operettenhaus Einzug gehalten, sondern eine sehenswerte Show mit fantastischer neuer Musik und einer berührenden Geschichte.
Anders als es der Titel vermuten lässt, dreht sich in dem Stück aber nicht alles nur um die „verrückten Stiefel“, sondern um eine wunderbare Botschaft, die gerade in unserer heutigen Zeit wichtiger denn je erscheint: Sei du selbst! Auf äußerst kluge Weise fokussiert Regisseur Jerry Mitchell dabei die Themen Selbstfindung und Selbstrespekt und präsentiert „Kinky Boots“ nicht nur als eine von Anfang bis Ende unterhaltsame und spaßige Show, sondern als emotionale Achterbahnfahrt.
Basierend auf dem Film „Man(n) trägt Stiefel“ aus dem Jahr 2005, der wiederum auf einer wahren Begebenheit beruht, erzählt das Musical die Geschichte von Charlie Price aus Northampton, der die kurz vor der Pleite stehende Schuhfabrik seines Vaters erbt und sich – inspiriert durch die Drag-Queen Lola – erfolgreich auf Fetisch-Schuhwerk für Männer spezialisiert, um die Firma zu retten.
Zwar klingt die Geschichte zunächst nicht sonderlich originell, doch wurde sie von Buchautor Harvey Fierstein äußerst liebevoll um Aussagen wie das bereits zitierte „Sei du selbst“ oder „Akzeptiere jeden, wie er ist“ oder „Ändere dich und du änderst die Welt“ entwickelt. Getragen von sehr starken Charakteren, von denen jeder seine eigene Geschichte hat, ist so ein spannendes wie humorvolles Musical entstanden, das auch musikalisch anspruchsvoll ist.
Cyndi Lauper hat einfallsreiche und sehr gut ins Ohr gehende Melodien komponiert, aus denen die poppige Seite der Komponistin gar nicht immer so stark hervorgeht. Vielmehr wechseln sich herrlich aufgebaute Balladen mit in die Beine gehenden Up-Tempo-Nummern ab, die perfekt in die Handlung integriert wurden und von einem kleinen Orchester unter der Leitung von Sebastian de Domenico exzellent dargeboten werden. Genauso hörenswert wie die Musik sind zudem die deutschen Songtexte von Kevin Schroeder und die Dialoge von Ruth Deny, denen es vortrefflich gelungen ist, Wortwitz, Charme und Emotionen zu transportieren.
Das gesamte Stück steht und fällt jedoch mit der Cast – und hier hat Stage Entertainment insbesondere mit Gino Emnes und Dominik Hees als Leading Men ein mehr als glückliches Händchen bewiesen. Gino Emnes liefert in der Rolle der Lola ein umwerfendes Porträt einer Drag-Queen. Er füllt die Rolle mit einer Menge Glanz und Glitter, steht in jeder Szene immerzu im Mittelpunkt und beherrscht die Bühne ideal.
Mit stil- und hingebungsvollem Schauspiel visualisiert Emnes, dass Lolas Universum aus purer Unumgänglichkeit um sie selbst kreist. In allen Facetten begeistert er als Drag-Queen und ist genauso extravagant wie aufregend, genauso komisch wie theatralisch. Bei Lolas seelendemaskierenden Songs legt Gino Emnes so viel Gefühl in den Gesang, dass er damit zu Tränen rührt und eine wahre Welle an Emotionen ins Auditorium schickt, wogegen er das Publikum in den schnelleren Nummern durch seine starke Bühnenpräsenz mitzureißen vermag.
Logisch also, dass es für Dominik Hees in der Rolle des Schuhfabrikanten Charlie keine einfache Aufgabe ist, neben dem schillernden Gino Emnes nicht zu verblassen. Doch es gelingt ihm bestens, seiner Rolle Substanz, Gewicht und Authentizität zu verleihen und so schauspielerisch auf gleicher Augenhöhe mit Emnes zu agieren. Auch gesanglich meistert Hees seinen Part mit Bravour und beweist eindrucksvoll, dass er sowohl rockigen Songs als auch schwermütigen Balladen gewachsen ist.
Jeannine Wacker gibt die Rolle der Lauren als sympathische Fabrikarbeiterin mit gutem komödiantischen Timing und angenehmer Singstimme, während Franziska Schuster als Charlies Freundin Nicola eine wunderbare Zicke mimt – und zwar so überzeugend, dass einem fast ein Stein vom Herzen fällt, wenn sich das Paar – man möchte fast sagen: endlich! – trennt.
Einwandfrei besetzt wurden außerdem Tilman Madaus und Benjamin Eberling. Während Madaus als liebenswerter Vorarbeiter George, der sich von Anfang an auf Lolas Seite schlägt, sehr schnell Sympathiepunkte beim Publikum sammelt, gibt Eberling den stämmigen Fabrikarbeiter Don angenehm griesgrämig. Schauspielerisch vollzieht Benjamin Eberling eine starke Wandlung, weil Don sich zunächst an Lola stört und schlussendlich doch erkennt, dass man Menschen so akzeptieren muss, wie sie sind.
Stellvertretend für die Darsteller mit den kleineren Parts müssen noch Frank Logemann als Mr. Price, Jana Stelley als Gemma Louise, Denise Jastraunig als Maggie und Kaatje Dierks als Trish genannt werden. Sehenswert sind darüber hinaus Pedro Batista Gonzalez, Tayler Davis, Dorival Junco, Raul Martin Rodriguez, Clayton Sia und Alex Snova als Lolas Angels, die ein wenig an die Cagelles aus „La Cage aux Folles“ erinnern.
Genauso sehenswert wie die Angels ist zweifellos auch die Ausstattung. Als echte Hingucker erweisen sich erwartungsgemäß die Stiefel und Kostüme von Gregg Barnes, doch das Bühnenbild von David Rockwell wird ebenfalls allen Erwartungen gerecht. Im Grunde besteht es hauptsächlich aus der Schuhfabrik Price & Son, die durch fahrbare Kulissenteile den Blick auf immer wieder neue Schauplätze freigibt.
Last but not least erweist sich Jerry Mitchell als vortrefflicher Regisseur und Choreograf, der „Kinky Boots“ stringent inszeniert hat und keine Längen aufkommen lässt. Zudem hat er die Charaktere stark herausgearbeitet und die von Buchautor Harvey Fierstein vorgegebenen Themen Selbstfindung und Selbstrespekt exzellent in den Fokus gestellt. Dass diese Botschaft beim Publikum ankommt, ist nicht nur der Verdienst von Fierstein, sondern auch das Werk von Mitchell, der als Regisseur mit seiner starken Cast eine wirklich authentisch-emotionale wie unterhaltsam-spaßige Bühnenshow geschaffen hat.
Seit dem Ende des Hamburger Gastspiels von „Billy Elliot“ ist mit „Kinky Boots“ somit ein würdiger Nachfolger gefunden worden für das aktuell wohl sehenswerteste Musical in der Hansestadt. Es bleibt dem Stück eine lange Laufzeit zu wünschen, denn der Mut von Stage Entertainment, diese Show nach Hamburg zu holen, sollte unbedingt belohnt werden. „Kinky Boots“ passt auf den Kiez wie die Faust aufs Auge und erweist sich gerade in der heutigen Zeit als ein unentbehrliches Stück Musiktheater. Everybody say Yeah!
Text: Dominik Lapp