Grau in grau: „Kinky Boots“ in Hildesheim
Der Sex steckt in den Heels! Allerdings nicht am Theater für Niedersachsen in Hildesheim, wo die erste deutsche Stadttheater-Inszenierung des Musicals „Kinky Boots“ nur auf Sparflamme läuft. Das Musical von Cyndi Lauper (Musik und Songtexte) und Harvey Fierstein (Buch) ist eigentlich eine großartige Show mit einer noch großartigeren Botschaft. Doch die Inszenierung von Lilo Wanders wird dem Stück nicht gerecht.
Es ist definitiv ein PR-Coup, dass man Lilo Wanders die Regie anvertraut hat. Und das aus zweierlei Gründen. Zum einen, weil sie sich zwischen Dragqueens, Transsexuellen, Transvestiten und Kunstfiguren sehr gut auskennt. Zum anderen, weil sich ihre Großeltern wohl tatsächlich in der Schuhfabrik in Northampton kennen lernten, auf der die Geschichte basiert, die in „Kinky Boots“ erzählt wird.
Dass man ihr mit Oliver Pauli jedoch einen Co-Regisseur zur Seite gestellt hat, könnte ein Zeichen dafür sein, dass Lilo Wanders in erster Linie ihren bekannten Namen für die Inszenierung hergegeben hat und nicht wirklich viel Zeit hatte, sich mit dem Stoff zu beschäftigen. Das würde zumindest erklären, warum ihre Inszenierung so farb- und ideenlos, steril und manchmal wenig schlüssig ist.
Es ist immer spannend, wenn eine Regisseurin oder ein Regisseur einen neuen Ansatz sucht, das Stück aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet. Es ist aber auch völlig legitim, kein Risiko einzugehen und dies nicht zu tun. Ärgerlich ist es allerdings, wenn ein Stück nur (schlecht) nachinszeniert wird und dabei der Inhalt des Textbuches außer Acht gelassen wird.
Für Hauptfigur Lola steht Rot für Sex, aber Grün lediglich für saure Gurken und Blau für Müllsäcke. Warum sie trotzdem gleich drei verschiedene Kleider in den letztgenannten Farbtönen trägt, widerspricht der ganzen Figur. Später dann taucht Lola in Herrenkleidung in der Schuhfabrik auf und beteuert, wie unsicher sie sich in dieser Kleidung fühlt. Trotzdem lässt Lilo Wanders sie fortan fast nur noch in Herrenkleidung auftreten, was gar nicht mehr zum Inhalt der Dialoge passt. Denn immer wieder wird in den Texten auf Lolas extravagantes Aussehen Bezug genommen – das gar nicht so extravagant ist. Dadurch verlieren die Story und – vor allem – Lola an Glaubwürdigkeit, weil der psychologische Hintergrund der Figur nicht mehr passt. Es beschleicht einen das Gefühl, dass die Regie hier schlampig und völlig ungeachtet des Librettos gearbeitet hat.
Generell muss auch der Look der Dragqueens bemängelt werden. Kostüme, Perücken und Make-up in Kombination sehen nicht aus wie die erstklassige Arbeit eines Stadttheaters, sondern wirken doch eher, als sei es aus dem billigsten Karnevalsladen zugekauft worden. „Eine Dragqueen zieht ein Kleid an – und plötzlich ist sie Kleopatra. Ein Transvestit takelt sich auf und sieht dann gerne auch mal aus wie Boris Johnson in Mamas Schlüpper.“ So beschreibt Lola im Stück den Unterschied zwischen Dragqueens und Transvestiten. Die Dragqueens in „Kinky Boots“ wirken allerdings weniger wie Kleopatra und leider doch mehr wie Boris Johnson in Mamas Schlüpper. Das ist nicht nur schade, sondern ärgerlich, weil dadurch enorm viel kaputt gemacht wird. Insbesondere die Glaubwürdigkeit der Figuren.
Ohnehin ist das, was am Premierenabend geboten wird, nicht sehr glaubwürdig. Das Schauspiel wirkt an manchen Stellen hölzern, die Dialoge sind wenig flüssig, mehrere Versprecher inklusive. Auch wirken einzelne Herren (noch) ziemlich unsicher auf den hohen Absätzen. Als dann letztlich zwei Fabrikwände wackelnd auf die Bühne geschoben werden, komplettiert das den fragwürdigen Eindruck von einer wenig überzeugenden Inszenierung.
„Kinky Boots“ ist normalerweise eine großartige und farbenfrohe Show, in der sich emotionale Momente und Gute-Laune-Nummern fließend abwechseln. Doch die Inszenierung von Lilo Wanders transportiert nichts davon, ist nicht farbenfroh, sondern grau in grau. Das liegt nicht zuletzt auch an dem recht dunklen und uninspirierten Lichtdesign. Das Bühnenbild von Sebastian Ellrich zeigt die Außenansicht der Schuhfabrik und ist in seiner Einfachheit tourneetauglich, so dass die Produktion nicht nur in Hildesheim, sondern auch in anderen niedersächsischen Theatern zu sehen sein wird. Die Kostüme, für die ebenfalls Ellrich verantwortlich zeichnet, passen größtenteils zu den Charakteren, wenn auch die Kostüme von Lola und den Angels etwas zu unspektakulär ausgefallen sind. Wenig spektakulär ist zudem die Choreografie von Nigel Watson.
Auf der Habenseite ist immerhin noch die neunköpfige Band unter der Leitung von Andreas Unsicker, die Cyndi Laupers hitverdächtige Musik sehr gut intoniert. Retten kann die Musik allein den Abend jedoch nicht. Das gilt auch für das Musicalensemble des Hauses. Von den Damen können besonders Lara Hofmann als Nicola und Katharina Wollmann als Lauren mit den stärksten schauspielerischen Leistungen herausstechen. Daniel Wernecke verleiht seinem Don ein starkes Profil, ebenso Raphael Dörr seinem George. William Baugh als Lola und Johannes Osenberg als Charlie haben als Hauptdarsteller die schwersten Päckchen zu tragen, machen ihre Sache insgesamt – besonders gesanglich – ordentlich, sind aber, was die Authentizität betrifft, in ihren Figuren noch nicht vollends angekommen.
Positiv hervorzuheben ist letztendlich noch Robin Kulischs Neuübersetzung, die den Geist des englischen Originaltextes vortrefflich transportiert. Doch das allein, die starke Musik und die Darstellerinnen und Darsteller, denen man eine fähigere Regie gewünscht hätte, machen „Kinky Boots“ in Hildesheim nicht zu einer guten Show. Das ist bitter.
Text: Dominik Lapp