Achterbahn der Gefühle: „Kopfkino“ in Berlin
Manch einer mag es kennen: Den Drang nach Freiheit, in jungen Jahren das Zuhause verlassen, Zuflucht und Selbstfindung in der großen, weiten Welt. So auch Lennard, direkt aus der schwäbischen Provinz, angekommen im rauen, schockierend ehrlichen Berlin. Doch so einsam Lennard auch wirken mag: alleine ist er gewiss nicht unterwegs, begleiten ihn sechs Persönlichkeiten in seinem Kopf, die sich oft erbitterte Debatten und Wortgefechte liefern. Anstrengend? Für Lennard sicher. Amüsant? Für die Zuschauerinnen und Zuschauer auf jeden Fall! „Kopfkino – Das Filmmusical“ (Buch und Liedtexte: Peter Lund, Musik: Thomas Zaufke) findet nach seiner Uraufführung als Abschlussprojekt für den Studiengang Musical der UdK 2017 in Kooperation mit der Neuköllner Oper Berlin nun unter der Regie von Dimitar Mitko Valtchev seinen Weg auf die Amateurbühne. Dem Verein Stageink / Stagies Berlin, der größtenteils von Spenden lebt und in dem höchst talentierte Menschen Theater spielen, singen und tanzen, während sie in ihrem Alltag ganz anderen Aufgaben nachgehen, ist das äußerst gut gelungen. Die Spielfreude und Motivation, einen besonderen Abend zu kreieren, steht allen ausnahmslos ins Gesicht geschrieben.
Der Inhalt ist gleichermaßen unterhaltsam wie tiefgründig: Auf der Flucht vor seinen zerrütteten Familienverhältnissen und im Kampf mit dem Erwachsenwerden, macht Lennard sich auf in die verheißungsvolle Freiheit der deutschen Hauptstadt und bezieht dort sein erstes WG-Zimmer. Mit ihm ungewollt im Gepäck: Sophia, Helena, Boris, Tess, Jürgen und Theo. Kein Wunder, dass Lennard beim Sprechen öfter mal lange Pausen macht, muss er doch erst mal die ganzen Wortgefechte in seinem Kopf sortieren. Ein höchst amüsanter Schlagabtausch beginnt, als Lennard auf seine zukünftigen Mitbewohner Fine und Ben trifft, kopfüber ins scheinbar typische Berliner Leben eintaucht, sich zwischen den Fronten von Vernunft und Verführung wiederfindet und letztendlich vor dem Schritt steht, sich mit den Schatten der Vergangenheit auseinanderzusetzen, als urplötzlich seine Schwester Mona in Kreuzberg vor der Tür auftraucht – seine Schwester, die er eigentlich offiziell für tot erklärt hat.
Protagonist Lennard wird äußerst talentiert dargestellt von Lukas Bosse, der ohne Zweifel durch das Stück trägt. Er meistert die Herausforderung der fast durchgängigen Präsenz sowie der Dreh- und Angelpunkt des Geschehens zu sein, scheinbar mühelos. Auch gelingt es ihm sehr amüsant, mitfühlen zu lassen, in welchem Chaos sich sein Kopf befindet. Angst? Umsicht? Die strenge Stimme, die Verführung oder doch das innere Kind? Ihm gelingt ein amüsantes Zusammenspiel mit all seinen sechs Begleiterinnen und Begleitern, die ihn umsichtig durch die Handlung begleiten. Stimmlich überraschend ausdrucksstark und talentiert trägt Bosse durch den Abend und wird am Ende gebührend mit Applaus belohnt.
In seinem Oberstübchen nisten folgende Persönlichkeiten: Sophia (Yve Stephan), die Umsicht und Vernunft, Theo (Renja Schmakeit), Lennards inneres Kind, Boris (Daniel Wollförster) und Helena (Nicola Daro) mit einer Anspielung auf Lennards sich ständig streitende Eltern, die coole Socke Tess (Christine Milo), die sicherlich die ein oder andere Verführung auf Lager hat, sowie Jürgen (Sven Edthofer), der Inbegriff von Angst und Unsicherheit. Beeindruckend miteinander eingespielt, spinnt jeder und jede von ihnen somit das einerseits erdrückende, aber auch schützende Netz über Lennard, von dem er sich letztendlich befreien kann. Sie alle zeichnen gekonnt die Linien ihres Charakters, überzeugen mehr als einmal stimmlich auf hohem Niveau und geben dem Inhalt die passende amüsante, aber auch nachdenkliche Note.
Doch Lennard wird nicht nur durch seine inneren Stimmen umringt – trifft er doch in Berlin auf seine neuen, zukünftigen Mitbewohner und stolpert kopfüber in die raue Wirklichkeit der großen Stadt, die ihn komplett aufzufressen scheint. Überteuertes WG-Zimmer, eine Mitbewohnerin, die kleine Pillen vertickt und nicht weiß, wo sie im Leben hingehört, und ein Mitbewohner, der gegen Kapitalismus auf die Straße geht und für eine innere Zerrissenheit in Lennards Liebesangelegenheiten sorgt. Anna Idahl (Fine) und Matthias Busch (Ben) geben sehr authentische Wegbegleiter Lennarts, die durch dessen Ankunft mit all seinen sechs Stimmen gehörig aufgewirbelt werden. Auch stehen enorme Spielfreude und Präsenz im Vordergrund, schaffen es beide doch sehr gekonnt, das Publikum zu begeistern und in ihren eigenen, persönlichen Geschichten mitfühlen zu lassen. Idahl gelingt beeindruckend der nachdenklich stimmende Spagat zwischen der äußerlich so coolen Fine, die innerlich völlig zerrissen und auf der Suche nach Halt und Orientierung im Leben ist. Busch als kerniges Gegenüber überzeugt schauspielerisch und gesanglich mühelos, als er die Bühne mit großer Leichtigkeit für sich einnimmt. Die Charaktere Ben und Fine erfüllen einerseits liebevoll typische Klischees und sind doch andererseits das Spiegelbild der Menschheit, junge Leute auf der Suche nach sich selbst, dem Leben und ihrem Platz in der Gesellschaft.
Als Letztes muss auf jeden Fall Mona (Francesca Valetta), Lennards Schwester, erwähnt werden, die äußerst schlagfertig und selbstbewusst die Szenerie gehörig aufwirbelt, als sie unerwartet in Berlin auftaucht und ihren Bruder zurück in die Heimat zerren will. Die ungeschminkte Realität, die er doch so zu verdrängen versuchte, holt Lennard knallhart ein, als er sich plötzlich mit seiner Vergangenheit und den schwierigen Familienverhältnissen konfrontiert sieht. Man weiß als Zuschauer zuerst nicht, ob man Mona mögen soll oder nicht. Letztendlich ist es Valettas großartiger, sympathischer Darstellung mit der richtigen Prise Humor und Ironie zu verdanken, dass die scheinbar kühle Fassade ihrer Protagonistin zu bröckeln beginnt.
Begleitet werden die hochmotivierten Darstellerinnen und Darsteller durch ein talentiertes Ensemble und eine sechsköpfige Band unter der Leitung von Konstantin Hofmann (Bandleitung, Musikalische Leitung: Oliver Wunderlich), bestehend aus (E-)Gitarren, Keyboard und Schlagzeug. Die Musik ist rockig und kraftvoll, hat aber auch zugleich sehr zerbrechliche Nuancen, die zum Mitfühlen und Nachdenken einladen. Die Handlungsabfolge als Film(-dreh) ist äußerst kurzweilig und gerafft, wenn man auch nach den gut zweieinhalb Stunden die Geschichte als auserzählt betrachtet. Sehr gelungen am Buch ist, wie jede der sechs Stimmen in Lennards Kopf ihre eigene Geschichte in einem Solo musikalisch ausdrücken kann und somit mehr Transparenz in ihr eigenes Innenleben zulässt. Geschichten in der Geschichte, sozusagen. Hervorheben muss man hier definitiv Renja Schmakeit als Theo, das jüngere Ich, der es hervorragend versteht, die kindlichen Nuancen amüsant auszuspielen, ohne dass es übertrieben wirkt. Im Gegenteil, es stimmt nachdenklich und sorgt für den ein oder anderen emotionalen Moment.
Die Bühne (Camila Ivana Vardas Pardo, Omar Sherif) besteht aus einem gleichbleibenden Bühnenbild, was geschickt durch verschiedene Accessoires (Requisite: Nicola Daro, Yasmina Giebeler) und Möbel angepasst, sowie durch Projektionen verstärkt wird. Es wird die Küche der WG als Dreh- und Angelpunkt mit voll beschrifteter Wand und einem stets mit Alkohol gut gefüllten Kühlschrank dargestellt sowie der Übergang in Lennards Zimmer, was einer Besenkammer gleicht, Matratze auf dem Boden inklusive. Besonders im Kopf bleiben auch hier die Ensembleszenen, unter anderem als die Großstadt Berlin Lennard zu überrollen droht, nicht zuletzt dank der passgenauen Choreografien (Daniela Reitenbach, Elena Feuß) und der authentischen Kostüme (Lukas Bosse).
Nach zweieinhalb Stunden und einer Achterbahnfahrt der Gefühle, die wahrlich einem Feuerwerk gleicht, bleibt am Ende die hoffnungsvolle Essenz, dass „vielleicht doch noch alles gut wird.“ Und die Frage, nach der nächsten Produktion von stageink. Man kann wirklich gespannt sein.
Text: Katharina Karsunke