Lustvoll schrill und topaktuell: „La Cage aux Folles“ in Kassel
Unter der Regie von Matthew Wild präsentiert sich der Musical-Klassiker „La Cage aux Folles“ von Jerry Herman (Musik und Songtexte) und Harvey Fierstein (Buch) am Staatstheater in der Documenta-Stadt Kassel in neuem, sehr gelungenem Gewand.
Eine Drehbühne (Bühnenbild: Sebastian Hannak) verwandelt sich rasch vom glitzernden Nachtclub zur edel silbernen Wohnung oder zum netten Bistro, auf beiden Seiten der Bühne gibt es Separees, welche auch die Garderoben der Künstler bilden.
Das hervorragende Staatsorchester Kassel unter der Leitung von Peter Schedding ist im Graben platziert, vor dem sich aber noch ein Laufsteg für die Darstellerinnen und Darsteller befindet, es ist also in die Bühne vollständig eingebunden und wird auch ins Spiel mit einbezogen. Die Kostüme von Conor Murphy sind opulent und erfreulich modern, denn das ist das Thema des ganzen Abends: „La Cage aux Folles“ ist zeitlos aktuell.
Das zeigen auch die sehr schönen Texte in der Übersetzung von Martin G. Berger, die während der Chorszenen als Übertitel mitlaufen, was das Verständnis erleichtert. Lobend erwähnt werden soll auch unbedingt das Licht von Christian Franzen, das auf Blendeffekte verzichtet und augenfreundlich stets die passende Atmosphäre schafft.
Doch was den Abend zum grandiosen Erlebnis macht, ist die hinreißend spielfreudige, ausgezeichnete Cast. In der spritzigen Choreografie von Louisa Talbot glänzen als Cagelles Melissa Laurenzia Peters, Maximilian Aschenbrenner, Leopold Lachnit, Thiago Fayad, Clara Hendel, Giovanni Corrado, Lena Poppe, Leander Bertholdt, Clara Schönberner und Philipp Faustmann.
Die patente Wirtin Jaqueline, die es faustdick hinter den Ohren hat und selbstverständlich zu ihren Freunden steht, wird wunderbar verschmitzt und warmherzig von Clara Hendel gegeben. Einen Running Gag bietet Janina Steinbach als Francis, die im Laufe des Abends augenscheinlich immer invalider wird, mit umwerfender Komik – eine große Leistung der Studierenden (und Alumni) des Instituts für Musik der Hochschule Osnabrück.
Unglaublich komisch, hinreißend gespielt und Hingucker des Abends ist Fausto Israel als Butler – nein, Zofe! – Jacob. Marie Dindon würde so gerne, darf aber nicht – mittanzen, singen, ein wenig aus sich herausgehen: wunderbar schüchtern ganz zart gespielt von Ingrid Fröseth.
Edouard Dindon ist ein Kotzbrocken erster Güte, den Bernhard Modes bestens präsentiert. Seine Tochter Anne Dindon, wunderbar mädchenhaft und genauso selbstbewusst gezeichnet von Leonie Dietrich, ist die große Liebe von Jean Michel, den Merlin Fargel mit Chuzpe, jugendlichem Ungestüm, aber doch auch der Fähigkeit zur Selbsterkenntnis sehr schön auf die Bühne bringt.
Georges ist ein vielschichtiger Charakter, der im Laufe des Abends vom gestressten Manager, der seinen Star Zaza auf die Bühne quatschen muss, dem liebenden Vater, der seinen Sohn glücklich sehen will, dem gealterten Liebenden, der seinen Geliebten enttäuschen zu müssen glaubt, zu sich selbst findet: er ist derselbe, der einst am Strand die Liebe seines Lebens fand, zu der er endlich voll und ganz steht. Das alles verkörpert Livio Cecini nuanciert und sehr glaubhaft mit voller, schmelzender Stimme.
Eine Meisterleistung aber gelingt Adrian Beckers als Albin / Zaza. Jede Geste, jeder Fingerzeig, jede Mimik passt perfekt zur Rolle, und die Stimme ist wirklich fantastisch. Er verleiht der Figur Würde, ohne an Komik zu sparen. Und wie die gesamte Cast, lässt er genüsslich die Sau raus – sehr zum Vergnügen des vollkommen zu Recht begeisterten Publikums.
Leider hat sich bis in die Staatsoper die Unsitte eingeschlichen, seitens des Publikums fortwährend zu kreischen, aber das ist auch wirklich das Einzige, was einen Abend ein bisschen trübt, der ansonsten rundum gelungen nicht nur größtes Vergnügen macht, sondern sich der Frage stellt: Ist es „Gendergaga“ oder das Recht auf Selbstverwirklichung? Nun: „I am what I am!“
Text: Hildegard Wiecker