Bildgewaltige Inszenierung: „Les Misérables“ in München
Seit knapp 40 Jahren lässt das Musical „Les Misérables“, basierend auf der umfangreichen Romanvorlage von Victor Hugo, die Zustände rund um den Pariser Juniaufstand 1832 auf der Bühne wiederauferstehen. Weltweit dürfte das Stück, eine Gemeinschaftsproduktion der Franzosen Claude-Michel Schönberg (Musik) und Alan Boublil (Libretto) vor allem in der Inszenierung von Cameron Mackintosh bekannt sein. Die Rechteinhaber halten auf jede Neuinszenierung ein strenges Auge und haben das letzte Wort bei der Genehmigung von Besetzung und Grundkonzept und verbieten beispielsweise den Transfer des Stücks in eine andere Zeit.
Trotz der erschwerten Auflagen ist es Regisseur Josef E. Köpplinger gelungen, das Musical als Kooperation des Theaters St. Gallen und des Gärtnerplatztheaters München im deutschsprachigen Raum aufzuführen. Nach der Spielzeit in der Schweiz hat jetzt das Gastspiel in der bayerischen Landeshauptstadt begonnen.
Die Fülle an agierenden Personen im Stück, deren Lebenswege sich mehrfach kreuzen und unmittelbar beeinflussen, ist nahezu unerschöpflich. Bis alle eingeführt und durch Zeitsprünge gealtert sind, wird dem Publikum im ersten Akt, der mit 90 Minuten fast schon Spielfilmlänge hat, einiges an Konzentration abverlangt. Der Handlungsstrang ist zentral an der Lebensgeschichte des Jean Valjean ausgerichtet. Zunächst noch verbitterter Sträfling, welcher aufgrund des Diebstahls eines Brotes ewig die Nummer 24601 eintätowiert tragen wird, beschließt Valjean sein Leben zu ändern.
Dass die Darstellung seines Lebenswandels und das fortan moralische und uneigennützige Auftreten dem Valjean-Darsteller stimmlich einiges abverlangt, dürfte Armin Kahl am Premierenabend auf harte Weise gespürt haben, da ihm während des Prologs die Stimme wegbricht. Kahl spielt den ersten Akt noch zu Ende, wird jedoch in den Gesangseinlagen bereits von der Seitenbühne von der alternierenden Besetzung Filippo Strocchi ersetzt. Einem Großteil des Publikums, vor allem in den hinteren Sitzreihen, dürfte der Unterschied gar nicht aufgefallen sein. Dass dieser Umstand von allen Beteiligten hochprofessionell gemeistert wurde, wird mit großem Applaus belohnt, als der Regisseur und Intendant zu Beginn der Pause auf die Bühne tritt, die Situation erklärt, Kahl zur weiteren Genesung nach Hause schickt und die Umbesetzung für den zweiten Akt auf Strocchi ankündigt. Dieser kann dann im zweiten Akt neben einer sauber geführten Stimme unter Beweis stellen, dass er sich auch mühelos in den alternden Valjean, an welchem zunehmend Gewissensbisse nagen, versetzen kann.
Dass die Straßen von Frankreich zum Zeitpunkt der Arbeiter- und Studentenaufstände kein einfaches Pflaster, sondern meist düster sind, wird neben der Handlung durch ein vielfältiges atmosphärisches Lichtdesign (Josef E. Köpplinger und Andreas Enzler) verstärkt. Das Bühnenbild von Rainer Sinell zeigt Häuserfassaden, das Wirtshaus der Thénardiers oder die Barrikade, welche zunächst etwas unfertig wirken, durch den Einsatz der Drehbühne dann aber eine Wandlungsfähigkeit offenbaren, die nichts vermissen lässt. Es gibt schon fast etwas zu viel ständige Bewegung auf der Bühne, wenn sich der schwarze Zwischenvorhang permanent hebt und senkt, um im Hintergrund die nächste Szene vorzubereiten, oder sich Häuserfronten bewegen, während Polizeiinspektor Javert die „Sterne“ im gleichnamigen Lied besingt. Der Gegenspieler des Valjean wird von Daniel Gutmann dargestellt und kann stimmlich überzeugen, wirkt jedoch im Gesamtbild der Rolle ein wenig zu jugendlich für den harten, gnadenlosen Hüter von Recht und Ordnung.
Mit dieser kleinen Ausnahme wurde eine Besetzung für das Stück gecastet, die stimmlich und schauspielerisch brilliert. Die klangvolle Unterstützung durch den Chor des Gärtnerplatztheaters zeigt sich vor allem in den großen Ensembleszenen wie dem „Lied des Volkes“ oder „Morgen schon“. Zusätzlich kommt man in den akustischen Genuss, das durchkomponierte Musical in der Orchesterversion unter der Leitung von Koen Schoots zu hören. Die Wechselwirkung zwischen klassischer Musik und dramatischer Handlung erreicht vor allem im ersten Akt zahlreiche Höhepunkte.
Wietske van Tongerens starke Interpretation der Fantine überwindet mit dem Lied „Ich hab‘ geträumt vor langer Zeit“ mühelos die Bühnengrenze und den Orchestergrabens und vermittelt das Gefühl, dass sie jedem Einzelnen im Raum persönlich und auf nachdrückliche Weise ihre Vergangenheit offenbart.
Gleichzeitig derb wie charmant wird das Wirtspaar Thénardier von Alexander Franzen und Dagmar Hellberg verkörpert, die einen willkommenen leichten Hauch von Klamauk in die ernste Grundstimmung bringen und mit der Szene „Herr im Haus“ ihre Spelunke zum Beben bringen. Dass Franzen jedoch auch die leisen Töne trifft, zeigt sich in einer Szene im zweiten Akt, wenn Thénardier die im Aufstand Gefallenen in der Kanalisation bestiehlt. Ein perfektes Zusammenspiel von Bühnenbild, Licht, Ton, Choreografie und Kostümen erzeugt die Illusion von in den Abwasserkanälen treibenden Leichen.
In „Les Misérables“ beleuchtet annähernd jede Figur ein eigenes Spannungsfeld, dem Leben zwischen Gesetz und Gnade oder auch zwischen Liebe und Barrikade. Alle Handlungsstränge wirken verbunden durch die Warnung Voltaires, welche auch auf den Theatervorhand projiziert wird, dass jeder Fanatismus in Fatalismus endet. Der Kampf auf den Barrikaden wird in dieser Inszenierung nicht weniger bildgewaltig dargestellt als in seiner Urversion. Die ausverkauften Vorstellungen der Spielzeit dürften schon vorab bestätigen, dass es sich, wie das Gärtnerplatztheater selbst titelt, um eine „Barrikade-Hitparade“ handelt.
Text: Nathalie Kroj