Triumphale Rückkehr: „Les Misérables“ in Paris
Das Théâtre du Châtelet in Paris beweist, dass es eine der unangefochtenen Bühnen für Musicals in Frankreich ist. Mit einer gelungenen Neuinszenierung von „Les Misérables“ zeigt das Haus, warum es diesen Ruf genießt. Die Produktion in der Regie von Ladislas Chollat präsentiert eine komplett französische Version des weltberühmten Werks von Claude-Michel Schönberg (Musik) und Alain Boublil (Buch). Die frische Perspektive, das innovative Bühnenbild und die präzise Umsetzung machen die Aufführung zu einem einzigartigen Erlebnis in jener Stadt, in der nicht nur etliche Szenen des Stücks spielen, sondern in der das Musical seine Uraufführung erlebte.
Die Geschichte von „Les Misérables“ hat in Frankreich eine wechselvolle Bühnenhistorie. Bereits 1980 wird das auf Victor Hugos epischem Roman basierende Musical erstmals in Paris gezeigt – im Palais des Sports. Allerdings mit nur mäßigem Erfolg. Während die englische Version später Weltruhm erlangt und in London zum Dauerbrenner wird, bleibt der Durchbruch in Frankreich lange aus. Die Inszenierung im Théâtre Mogador von 1991 wird nach nur sechs Monaten abgesetzt. Erst die englischsprachige Tourneeaufführung im Théâtre du Châtelet im Jahr 2010 weckt wieder das Interesse des französischen Publikums. Mit der aktuellen Produktion schafft das Châtelet nun endlich, was so lange verwehrt blieb: Es präsentiert eine Version, die das Publikum bewegt und begeistert.
Schon der erste Moment der Inszenierung zieht die Zuschauerinnen und Zuschauer in die Pariser Welt des 19. Jahrhunderts. Das Bühnenbild von Emmanuelle Roy ist relativ minimalistisch, aber beeindruckend ausdrucksstark. Bewegliche Elemente, kombiniert mit großartigen Videoprojektionen, schaffen Schauplätze, die sowohl realistisch als auch poetisch wirken. Die Projektionen, inspiriert von den Tuschezeichnungen Victor Hugos, verleihen der Inszenierung eine geradezu traumhafte Atmosphäre. Das Lichtdesign von Alban Sauvé verstärkt diese Wirkung und fängt die emotionalen Höhen und Tiefen der Handlung perfekt ein.
Die Regie von Ladislas Chollat verbindet die zeitlose Größe von Victor Hugos Vision mit einer modernen Erzählweise. Die Figuren sprechen in einem aktualisierten Französisch, das dem Werk eine frische Zugänglichkeit verleiht, ohne seine Historie zu verlieren. Gleichzeitig bewahrt Alexandra Cravero als Musikalische Leiterin die symphonische Ambition der Partitur. Das Orchester des Châtelet liefert eine meisterhafte Interpretation, die die Dramatik und Emotionalität der Musik auf höchstem Niveau entfaltet – allein für diese klangliche Brillanz lohnt sich ein Besuch.
Aber auch die Besetzung vermag durchweg zu faszinieren. Benoît Rameau in der Rolle des Jean Valjean brilliert mit einer packenden Darstellung. Seine Interpretation bringt die innere Zerrissenheit und die moralische Entwicklung seiner Figur mitreißend zum Ausdruck. Besonders seine Soli, darunter „Pourquoi ai-je permis à cet homme?“ und „Comme un homme“, gehören zu den Höhepunkten der Aufführung. Rameaus Tenor zeigt an vielen Stellen seine klassische Gesangsausbildung, besonders in den fein eingesetzten Falsett-Passagen.
Sébastien Duchange als Javert setzt einen kraftvollen Kontrast zu Valjean. Seine strenge, fast unnachgiebige Ausstrahlung macht den Konflikt zwischen Pflicht und persönlichem Gerechtigkeitsempfinden greifbar. Javerts finaler Selbstmord ist ein visuelles Meisterwerk, unterstützt durch die eindringliche Bühnenarbeit und die Videoprojektionen.
Claire Pérot (in Frankreich bekannt durch „Mozart – L’Opéra Rock“) überzeugt als Fantine mit einer Darbietung, die Schmerz und Hoffnung gleichermaßen transportiert. Ihr „J’avais rêvé“ geht tief unter die Haut und rührt zu Tränen. Juliette Artigala als Cosette und Jacques Preiss als Marius verkörpern jugendliche Romantik mit einer Chemie, die begeistert. Stanley Kassa als Enjolras beeindruckt mit seiner charismatischen Präsenz und einer kraftvollen Stimme, die die revolutionären Ideale der Figur lebendig macht.
Auch die weiteren Rollen sind exzellent besetzt. David Alexis und Christine Bonnard als die Thénardiers bringen eine großartige Mischung aus Humor und Schurkerei auf die Bühne. Besonders Bonnard begeistert mit einer schrillen, aber perfekt passenden Stimme, die ihre Figur unvergesslich macht. Océane Demontis als Eponine glänzt mit einer berührenden Interpretation von „Mon histoire“ und zieht das Publikum mit der emotionalen Interpretation ihrer Rolle regelrecht in den Bann.
Die zurückhaltende Choreografie von Romain Rachline Borgeaud fügt sich nahtlos in die Inszenierung ein, und die historisch-authentischen Kostüme von Jean-Daniel Vuillermoz lassen die Zeit des 19. Jahrhunderts lebendig werden – von den zerlumpten Kleidern der Armen bis hin zur opulenten Hochzeitskleidung. Ein visuelles Highlight sind zudem die Barrikadenszenen, die mit technischer Raffinesse überzeugen. Die Mischung aus realistischen Bühnenteilen sowie Requisiten, digitalen Effekten und Musik verstärkt dabei die Dramatik der Revolution, denn „Les Misérables“ ist nicht nur eine historische Erzählung, sondern besitzt auch heute noch politische und soziale Relevanz. Mehr als 40 Jahre nach seiner Uraufführung ist das Musical triumphal nach Paris zurückgekehrt.
Text: Christoph Doerner