Triumph der Emotionen: „Les Misérables“ in St. Gallen
Gute 16 Jahre ist es her, dass das Musical „Les Misérables“ in St. Gallen zu sehen war. Nun ist es in Kooperation mit dem Gärtnerplatztheater in München gelungen, das Stück wieder in die Schweiz zu holen, bevor es dann im März 2024 in Bayern aufgeführt wird. Die Inszenierung von Josef E. Köpplinger darf als äußerst solide bezeichnet werden, kann sich aber keine Experimente leisten, weil Produzent Cameron Mackintosh mit Argusaugen über sämtliche Inszenierungen weltweit wacht und von der Cast bis zu Bühnenbild und Kostümen alles absegnet.
So verwundert es nicht, dass sich „Les Misérables“ in St. Gallen optisch nicht großartig von bereits dagewesenen Inszenierungen unterscheidet. Dennoch verschmelzen beeindruckende Bilder, emotionale Darstellungen und musikalisches Können zu einem unvergesslichen Gesamterlebnis. Unter der Regie von Josef E. Köpplinger wird Victor Hugos epische Geschichte in einer Aufführung präsentiert, die durch ihre Authentizität und emotionale Tiefe herausragt, wozu selbstverständlich auch die fantastische Musik von Claude-Michel Schönberg beiträgt.
So liegt die Musikalische Leitung wieder in den bewährten Händen des erfahrenen Musical-Spezialisten Koen Schoots, der schon die Schweizer Erstaufführung im Jahr 2007 in selbiger Position verantwortet hat. Unter seinem Dirigat spielt das rund 40-köpfige Orchester in Höchstform und interpretiert die Partitur nuanciert sowie dynamisch. Das Klangerlebnis ist von beeindruckender Qualität, wie sie in dieser Form selten zu hören ist und was der Aufführung eine einzigartige Brillanz verleiht.
Die Kostüme von Uta Meenen sind nicht nur zeitgemäß, sondern auch detailreich und tragen maßgeblich zur Charakterentwicklung bei. Die Bühne, gestaltet von Rainer Sinell, mag zwar nicht die Opulenz einer Großproduktion bieten, hat aber alles, was man erwartet, um in die Story der Elenden einzutauchen. Die Drehbühne ermöglicht schnelle Szenenwechsel, wobei sich Häuserfassaden zu einem stets neu formierenden Hintergrund zusammensetzen. Beeindruckende intime Momente entstehen außerdem immer wieder auf der leeren schwarzen Bühne.
Regisseur Köpplinger zeichnet die Charaktere mit Feingefühl, was die emotionale Intensität der Handlung noch verstärkt. In seiner Inszenierung legt er den Fokus nicht nur auf das Geschehen, sondern auch auf die facettenreichen Persönlichkeiten – vor allem auf das Duo Jean Valjean und Javert, das durch Armin Kahl und Filippo Strocchi exzellent dargestellt wird. Kahl fesselt mit einer authentischen Darstellung sowie der beeindruckenden Wandlung seiner Figur und glänzt gesanglich unter anderem mit seinem zu Tränen rührenden „Bring ihn heim“. Ein starker Gegenspieler ist Strocchi, der mit der Interpretation des Songs „Sterne“ überzeugt und einen sehr vielschichtigen Polizei-Inspektor zeigt.
Die weiblichen Rollen sind ebenfalls herausragend besetzt. Wietske van Tongeren als Fantine berührt mit ihrem eindringlichen Gesang, insbesondere in „Ich hab‘ geträumt vor langer Zeit“, Barbara Obermeier als Eponine liefert ebenfalls eine glaubhafte Performance, wobei ihr Solo „Nur für mich“ und das Duett „Der Regen“ mit Thomas Hohler als Marius bleibenden Eindruck hinterlassen.
Schauspielerisch wie stimmlich beeindruckend ist zudem die Harmonie zwischen Hohler und Kristine Emde als Cosette, während Merlin Fargel als mitreißender Studentenführer Enjolras begeistert. Die humorvolle Auflockerung der düsteren Grundatmosphäre übernehmen Jogi Kaiser und Dagmar Hellberg in den Rollen der Wirtsleute Thénardier. Mit ihren Nummern „Herr im Haus“ und „Bettler ans Buffet“ sorgen sie für eine willkommene Atempause inmitten des dramatischen Geschehens.
Zusammenfassend präsentiert man mit „Les Misérables“ in St. Gallen eine fantastische Gesamtleistung, die durch erstklassige Darstellerinnen und Darsteller, eine solide und durchdachte Inszenierung sowie eine herausragende Orchesterbegleitung besticht. Diese Aufführung ist ein Triumph der Emotionen, der das Publikum von Anfang bis Ende in seinen Bann zieht. Das Münchner Publikum darf sich bereits freuen!
Text: Christoph Doerner