Große Emotionen: „Les Misérables“ in Tecklenburg
Wohl kaum ein Musical wurde hierzulande so sehnsüchtig erwartet wie Ulrich Wiggers‘ Inszenierung von „Les Misérables“ bei den Freilichtspielen Tecklenburg. Nachdem das Stück zwischen 2001 und 2006 sehr häufig an deutschen Theatern zu sehen war, sind die Aufführungsrechte für deutsche Theater mittlerweile seit vielen Jahren gesperrt – zuletzt war das Stück 2013 beim Domplatz Open Air in Magdeburg zu sehen. Somit gilt es schon als kleine Sensation, dass sich die renommierte Bühne in Tecklenburg in diesem Jahr als einzige deutsche Bühne die Aufführungsrechte sichern konnte. Bereits im Jahr 2006 zeigte man hier „Les Misérables“ in einer imposanten Inszenierung mit starker Cast – doch die diesjährige Neuinszenierung braucht sich hinter der damaligen Produktion nicht zu verstecken.
Regisseur Ulrich Wiggers hat „Les Misérables“ sehr solide und unaufgeregt inszeniert, bietet jedoch keine großen Überraschungen, was sicher den strengen Vorgaben des Londoner Lizenzgebers geschuldet sein dürfte. Schade ist lediglich, dass er die großen Solonummern wie „Ich hab geträumt vor langer Zeit“, „Sterne“, „Nur für mich“ oder „Dunkles Schweigen an den Tischen“ zur Bühnenrampe singen lässt, statt die Möglichkeiten der riesigen Bühne, des großen Ensembles und Chores voll auszuschöpfen.
Den Geschmack des Publikums dürfte Wiggers aber in jedem Fall getroffen haben, sieht man das Stück in Tecklenburg doch so, wie man es sich vorstellt – als ein imposantes Historiendrama par excellence, woran auch das wunderbare Bühnenbild von Susanna Buller und die hervorragenden Kostüme von Karin Alberti einen großen Anteil haben.
Ebenso trägt das Lichtdesign von Tim Löpmeier perfekt dazu bei, die nötige Atmosphäre – vor allem während der Barrikadenkämpfe oder in der Kanalisation – zu schaffen. Wenn zu Beginn des zweiten Akts und zum Finale die komplette Bühne dann sogar in die Farben der französischen Trikolore getaucht wird, entstehen einmal mehr großartige Bilder.
Wie gewohnt, setzt man in Tecklenburg erneut auf eine namhafte Cast und präsentiert zudem vielversprechende Newcomer. Angeführt wird die Darstellerriege von Patrick Stanke, der Jean Valjean mit starker Bühnenpräsenz und grandioser Stimme gibt. Vom ausgestoßenen Sträfling zum Edelmann macht er eine beachtliche Entwicklung durch. Schauspielerisch verlangt diese Rolle einem Künstler sein ganzes Können ab, was für Stanke absolut kein Problem darstellt. Alle Lebensstationen Valjeans interpretiert er vollkommen authentisch und zu jeder Zeit fesselnd. Für seine gesangliche Leistung, insbesondere die emotionale Interpretation des Songs „Bring ihn heim“ mit einem perfekt ausgehaltenen Schlusston, wird er vom Publikum völlig zu Recht frenetisch gefeiert.
Ein starker Protagonist wie Patrick Stanke als Valjean erfordert einen ebenso starken Antagonisten, den man mit Robert Meyer als Javert – in der besuchten Vorstellung als Vertretung für Kevin Tarte auf der Bühne – gefunden hat. Das ewige Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem ehemaligen Sträfling und dem Polizei-Inspektor gelingt ihnen geradezu perfekt und Meyer weiß jeden seiner Auftritte sowohl schauspielerisch als auch gesanglich für sich zu nutzen. Er verleiht seinem Inspektor ein kraft- und würdevolles Auftreten, transportiert klar durch Mimik und Gestik, was Javert antreibt und begeistert in seinen Songs „Sterne“ und „Javerts Selbstmord“ mit exzellenter Stimmführung und einer ebenso schönen Stimmfarbe. Eine großartige Leistung!
Eine echte Entdeckung ist zudem Daniela Braun, die mit ihrem klaren Sopran eine wunderbar jugendlich-zarte und liebenswürdige Cosette gibt. Dabei gelingt es ihr, aus dieser buchbedingt sonst so blassen Rolle alles herauszuholen und – insbesondere an Valjeans Sterbebett – schauspielerisch vollkommen zu überzeugen.
In der Rolle des Studenten Marius steht ihr Florian Peters zur Seite. Beide harmonieren stimmlich wie schauspielerisch sehr gut miteinander. Nachdem Marius seine Freunde auf den Barrikaden von Paris verloren hat, singt Peters ein sehr gefühlvolles „Dunkles Schweigen an den Tischen“, für das er lautstarken Szenenapplaus ernten kann.
Eine der interessantesten Rollen des Stücks ist sicherlich Eponine, die mit Lasarah Sattler mit einer Newcomerin besetzt wurde, die nicht enttäuscht. Sie gibt ihren Part aufmüpfig und mutig, ist perfekt in ihrem Schauspiel und überzeugt gesanglich mit ihrem herzergreifend dargebotenen Lied „Nur für mich“. Ihre wenigen Auftritte weiß auch Milica Jovanovic als Fantine zu nutzen, um einen starken Eindruck zu hinterlassen. Ihr emotional mit starker Stimme dargebotenes Solo „Ich hab geträumt vor langer Zeit” ist ein Höhepunkt des Abends.
Seinen Kollegen in nichts nach steht David Jakobs als Enjolras, der einen starken, treibenden Revoluzzer gibt. Doch als heimliche Publikumslieblinge erweisen sich Jens Janke und Bettina Meske, die als Ehepaar Thénardier wunderbare Rollenprofile zeichnen – das Publikum liegt ihnen zu Füßen und feiert sie ganz besonders nach der Nummer „Herr im Haus“, die von Kati Heidebrecht prächtig choreografiert wurde. Vom Publikum ebenfalls gefeiert wird Jonas Kirsch, der den kleinen Gavroche für sein junges Alter geradezu perfekt spielt und singt.
Doch neben den Solisten darf das Ensemble nicht unerwähnt bleiben, das eine homogene Einheit bildet und aus dem viele schöne Stimmen hervorstechen, wie zum Beispiel von Juliane Bischoff (Erste Fabrikarbeiterin), Jennifer Kohl (Bagatelle Lady), Céline Vogt (Fabrikarbeiterin), Florian Soyka (Bischof von Digne), Fin Holzwart (Babet) oder Florian Albers (Montparnasse).
Den Abend wirklich exzellent werden lässt das Orchester unter der versierten Leitung von Tjaard Kirsch. Er treibt seine 20 Musiker zu Höchstleistungen an und leitet sie mit flottem Dirigat durch die anspruchsvolle Partitur von Claude-Michel Schönberg. Herrlich anzuhören, wie sich die musikalische Brillanz dieser Produktion in der Tecklenburger Burgruine zeigt und herrlich, dass dieses viel zu lange nicht mehr gespielte Musical endlich seine lang ersehnte Wiedergeburt erfahren hat.
Text: Dominik Lapp