Potenzial nicht vollständig genutzt: „Liebe stirbt nie“ in Magdeburg
Popcorn im Theater nervt. Außer man sitzt im Sommer auf dem Domplatz in Magdeburg und besucht das dortige Open-Air-Musical „Liebe stirbt nie“. Während des ersten Akts weht dem Publikum immer wieder leckerer Popcornduft von einem Verkaufsstand hinter der Tribüne um die Nase – und nichts würde wohl besser zu Szenerie passen als dieser süße Geruch. Schließlich spielt das Stück auf Coney Island, der Halbinsel in New York City, die für ihre Vergnügungsparks bekannt ist.
Ein fiktiver Vergnügungspark mit dem Namen „Phantasma“ ist der Schauplatz von Andrew Lloyd Webbers „Phantom der Oper“-Fortsetzung (Buch: Ben Elton). In der Inszenierung von Pascale-Sabine Chevroton ist der Domplatz zur Vergnügungsmeile umfunktioniert worden. Das fantastische Bühnenbild von Jürgen Franz Kirner zeigt auf der teilweise abgeschrägten Bühnenfläche einen überdimensionalen Clownskopf, aus dessen Mund eine Zunge auf Rädern herausfährt – als Teil einer Geisterbahn.
Ergänzt wird das Set durch ein historisches Pferdekarussell, eine surreale Nachbildung des Eiffelturms, einen Wassergraben mit Ruderboot, einer Zielscheibe, die den Weg in ein Spiegelkabinett freigibt und einen großen Puppenkopf, in dem sich eine Garderobe befindet. Durch eine Drehkonstruktion kann zwischen dem Zuhause des Phantoms und einem Hotelzimmer gewechselt werden. Im Hintergrund dominieren riesige Wellen die Bühne.
Mit Pascale-Sabine Chevroton wurde eine Regisseurin verpflichtet, die schon Musicals wie „Anatevka“ in Heidelberg, „Flammen“ in Hildesheim oder „Jesus Christ Superstar“ in Wien auf die Bühne gebracht hat und auch eine „Phantom“-Vergangenheit besitzt: So zeichnete sie 2012 und 2013 für die konzertanten Aufführungen von „Das Phantom der Oper“ und „Liebe stirbt nie“ in Wien verantwortlich.
Für ihre Domplatz-Inszenierung hat Chevroton ohne Zweifel wunderschöne Bilder geschaffen, allerdings nutzt sie die Möglichkeiten der riesigen Freilichtbühne nur unzureichend. Zu oft spielen intime Szenen am äußersten Bühnenrand, während die übrige Spielfläche frei bleibt. Vor dem Hintergrund, dass ihr ein riesiger Opernchor zur Verfügung steht und das Stück in einem Vergnügungspark spielt, hätten die Sängerinnen und Sänger des Chores und die Tänzerinnen und Tänzer des Balletts viel stärker in die Handlung eingebunden werden können – nicht nur singend, sondern eben auch als Statisterie, um die große Bühne mit Leben zu füllen.
Darüber hinaus wurde nicht bedacht, dass einige Szenen für das Publikum nicht gleich gut sichtbar sind. Mal wird zu weit links gespielt, mal steht das Pferdekarussell im Weg, mal sind es im Finale die Chormitglieder, die die Sicht ins Spiegelkabinett versperren – zumindest für die Menschen in den teuren vorderen Reihen. Wer auf der steil ansteigenden Tribüne weiter hinten sitzt, hat damit natürlich kein Problem.
Darüber hinaus lässt die Regisseurin einige Schlüsselszenen in der Bedeutungslosigkeit verpuffen. Dazu gehört neben Christine Daaés Ankunft in New York auch die szenische Umsetzung des Titelsongs. Obwohl man Inszenierungen nicht miteinander vergleichen sollte, bekommt man die Szene von Christines Ankunft in der Originalinszenierung nur schwer aus dem Kopf, wie sie dort als strahlender Opernstar zu den Klängen des laut aufspielenden Orchesters das Schiff im Hafen New Yorks über die Gangway verlässt, während sie in Magdeburg so unspektakulär wie eine Dritte-Klasse-Passagierin in die Szene tritt.
Gleiches gilt für den Titelsong (gelungene Übersetzung: Wolfgang Adenberg) gegen Ende des zweiten Akts. Unvergessen ist diese Szene in der Originalinszenierung, als Christine an den Bühnenrand tritt und sich hinter ihr ein überdimensionales Pfauenrad aufbaut. Pascale-Sabine Chevroton hingegen lässt Christine im hinteren Bühnenbereich auf einer kahlen Treppe und seitlich zum Publikum auftreten, so dass sich die Strahlkraft dieser Szene gar nicht entfalten kann.
Solche szenischen Aussetzer macht die Regisseurin aber mit einigen guten Einfällen wieder wett. Da wäre zunächst einmal Christines Alter Ego in Form einer jungen Balletttänzerin, die immer wieder im Hintergrund zu sehen ist und an die Anfänge des Opernstars als Ballettratte an der Pariser Oper erinnert, um so einen Bogen zum Vorgängerstück zu spannen. Effektvoll wird auch der vor der Bühne befindliche Wassergraben mit einem Ruderboot eingesetzt, der zeitweise sogar zu einer Hotelbar umfunktioniert wird.
Ein spannender neuer Ansatz ist darüber hinaus die optische Darstellung des Phantoms, das sich mittlerweile Mr. Y nennt. Die Jahre nach den Ereignissen in Paris haben ihm sichtbar zugesetzt. Was wir sehen, ist nicht mehr der Edelmann mit der strahlend weißen Maske von einst, sondern ein gealterter Mann mit langen Haaren, der an Edward Hyde erinnert. Je nach Szene trägt das Phantom eine silberne, schwarze oder weiße Maske, die jedoch wesentlich kantiger als die Originalmaske gestaltet ist. Auch ist die weiße Maske nicht mehr strahlend weiß, sondern leicht vergilbt und stellenweise verschmutzt. Es scheint, als habe sich der Mann, in seinem Ärger über den Verlust von Christine an Raoul, über die Jahre gehen lassen.
Für die Optik einer Inszenierung sind selbstverständlich auch Kostüme wichtig, die in Magdeburg von Tanja Liebermann entworfen wurden. Sie steckt den Chor (exzellent einstudiert von Martin Wagner) vornehmlich in schwarze Kleidung des frühen 20. Jahrhunderts und das Ballett (Choreografie: Pascale-Sabine Chevroton) in wunderbare weiße Harlekinskostüme mit viel Tüll. Madame Giry hingegen sieht aus wie eine Kopie von Norma Desmond, Christine darf schöne Kleider tragen, Raoul und Gustave klassische Anzüge. Sehenswert ist darüber hinaus das paillettenbesetzte Badenixen-Kostüm von Meg.
In der Rolle des Phantoms brilliert Patrick Stanke mit großer Bühnenpräsenz, glaubwürdigem Schauspiel und einer hervorragenden gesanglichen Leistung, besonders in seinem gefühlvoll dargebotenen Solo „So sehr fehlt mir dein Gesang“, wohingegen er in „Wo die Schönheit sich verbirgt“ rockige Töne anschlägt.
Martina Lechner gibt mit ihrem angenehmen Mezzosopran eine bezaubernde Christine Daaé, deren Gefühlsachterbahn sie schauspielerisch authentisch vermitteln kann. Stark ist zudem das Zusammenspiel mit Sebastian Seitz als Raoul und Patrick Stanke als Phantom. Im zweiten Akt gibt Seitz einen wunderbar leidenden Vicomte und überzeugt stimmlich im Duett „Wer verliert, geht unter“ mit Stanke.
Äußerst bewundernswert ist die Leistung von Sarah Gadinger, die als Gustave eine Hosenrolle mimt und in ihrem Spiel keinen Zweifel daran lässt, ein Kind darzustellen, was das Publikum in der besuchten Generalprobe mit lautstarkem Applaus honoriert. Manja Stein gibt eine gewohnt kühle und strenge Madame Giry, die aber durchaus auch weiche Züge durchscheinen lässt. Sophia Gorgi steigert sich als Meg brillant von der ehrgeizigen Balletttänzerin, die eine Showkarriere anstrebt, bis zur enttäuschten Künstlerin, was in einen wahnsinnigen Höhepunkt gipfelt. Ein geniales Dreigestirn geben außerdem Thomas Wißmann (Gangle), Dani Spampinato (Squelch) und Maike Katrin Merkel (Fleck) ab.
Die Magdeburgische Philharmonie unter der Leitung von Pawel Poplawski, die zumindest in der besuchten Generalprobe noch zu leise abgemischt ist und den nötigen Wumms des sinfonischen Werks vermissen lässt, wird der Partitur von Andrew Lloyd Webber sehr gut gerecht. In „Liebe stirbt nie“ hat Lloyd Webber musikalische Motive und Themen aus „Das Phantom der Oper“ wieder aufgegriffen und weiterentwickelt. Dies schafft eine Verbindung zwischen den beiden Musicals und sorgt für eine musikalische Kontinuität. Dabei integriert er verschiedene musikalische Stile. Es gibt klassische Opernelemente, wie sie im ersten Musical vorhanden sind, aber auch moderne und zeitgenössische Einflüsse, besonders das rockige „Wo die Schönheit sich verbirgt“.
Das Orchester meistert diese komplexe Partitur mit ihrer emotionalen Tiefe und den dramatischen Höhen mit Bravour, wodurch die Charaktere und ihre Beziehungen zueinander musikalisch sehr gut erforscht werden. So schafft die Musik eine dichte und düstere Atmosphäre, die bestens zur Handlung passt. Trotz des nicht vollständig genutzten Potenzials erweist sich „Liebe stirbt nie“ in Magdeburg als durchaus sehenswert. Richtig fesseln kann die Inszenierung aber nicht.
Text: Dominik Lapp