Eindringlich: „Die Mädchen von Oostende“ in Wien
Auch in den Wiener Theatern bleibt aufgrund der Corona-Krise derzeit der Vorhang unten. Aus diesem Grund wurde das im Frühjahr 2019 in der Wiener Theatercouch uraufgeführte Musical „Die Mädchen von Oostende“ von Rory Six jetzt ein Wochenende lang im Internet gestreamt. Obwohl es sich bei der Filmaufnahme nur um einen internen Mitschnitt handelt, der nie für eine Veröffentlichung vorgesehen war, vermittelt die Aufnahme dennoch einen sehr guten Eindruck von dem eindringlichen Stück.
Nach Stücken wie „Wenn Rosenblätter fallen“, „Ein wenig Farbe“ oder „Namen an der Wand“ beweist der belgische Musicaldarsteller und Komponist Rory Six mit seinem tragischen neuen Werk „Die Mädchen aus Oostende“, dass er zweifelsohne eine starker Theaterautor ist, der die richtigen Themen für die Bühne findet. Im Fokus des neuen Stücks stehen Mariette und ihr Vater, die ihm belgischen Oostende von der Fischerei leben. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, machen die U-Boote der Deutschen jegliche Fischerei unmöglich. So kommt es, dass sich die Mädchen von Oostende, die sonst Fisch verkauft haben, im Kampf gegen den Hungertod an die deutschen Soldaten verkaufen müssen.
Mit seiner Theatercouch hat Rory Six eine perfekte Bühne gewählt, denn „Die Mädchen von Oostende“ ist so eine kleine und intime Produktion, die auf der kleinen Bühne der Theatercouch bestens aufgehoben ist, so dass von der Geschichte nichts verloren geht. Das Bühnenbild ist sehr sparsam gehalten, reicht aber völlig aus: Auf Stoffbahnen wird der Hafen von Oostende angedeutet, im Vordergrund dienen einige Fischkisten als Verkaufsstände und Sitzgelegenheiten.
Bei der Darstellerriege wird nicht auf große Namen gesetzt, sondern auf fünf sehr authentisch wirkende Künstler. Allen voran begeistert Lisa Radl als Mariette, weil sie deren innere Konflikte glaubhaft macht. Sehr stark in Ausdruck und Spiel, zeigt Radl, dass sich Mariette zwischen ihrem Verlobten Louis und dem deutschen Soldaten Dietrich hin- und hergerissen fühlt. Die exzellente Charakterzeichnung einer modernen und selbstbestimmten Frau untermauert sie mit ihrem hervorragenden Gesang.
Aber auch Celina dos Santos als Germaine und Thomas Wegscheider als Dietrich gelingen eindringliche Momente, in denen sie ihre Rollen lebensnah und greifbar wirken lassen. Eine schauspielerisch starke Leistung bringt zudem Simon Stockinger, der sich als Louis immerzu zwischen Liebesgefühl und Kriegstrauma bewegt. Ebenso kann Christian Peter Hauser als Onno in seinen kurzen Auftritten glänzen.
Was bei allen fünf Darstellern deutlich wird: Es sind starke Charakterdarsteller, die nicht nur durch ihren Gesang strahlen, sondern auch durch ihr intensives Schauspiel. Das ermöglicht dem Regisseur Christian Peter Hauser, die berührend-dramatische Geschichte stringent und glaubhaft zu erzählen. Das sparsame Bühnenbild, die authentischen Kostüme und das passende Lichtdesign unterstreichen Hausers einfühlsame Inszenierung wunderbar und lassen den Darstellern viel Platz zur Charakterentwicklung.
Auch musikalisch überzeugt das Musical „Die Mädchen von Oostende“ auf ganzer Linie. Rory Six hat eine anspruchsvolle Partitur komponiert, die sich durch starke Charaktersongs auszeichnet und dramatische Soli genauso wie lyrische Liebesduette bereithält. So bleibt zu hoffen, dass diese kleine, aber feine Musicalproduktion künftig auch an anderen Häusern zu sehen sein wird. Gerade in Zeiten von Corona, wo wir uns die Frage stellen, inwiefern ein Theaterbetrieb unter Einhaltung von Hygiene- und Abstandsregeln überhaupt wieder möglich ist, könnte so ein Kammerstück vielleicht ein erster Schritt hin zu etwas kultureller Normalität sein.
Text: Dominik Lapp