Beeindruckendes Erlebnis: „Der Mann von La Mancha“ auf Tour
Hell aufloderndes Feuer, ein gellender Schrei – sobald sich der Deckel der Holzkiste auf der Bühne öffnet und Joachim Nimtz als Dichter Miguel de Cervantes, der zusammen mit seinem Stallmeister von der spanischen Inquisition der Ketzerei angeklagt ist, heraussteigt, ist man mitten im Geschehen. Schlag auf Schlag geht es, wenn die anderen Gefangenen den Neuankömmling ins Kreuzverhör nehmen. Als sie seine Sachen durchwühlen und auf ein Manuskript stoßen, spielt er ihnen die Geschichte von Don Quijote und seinem Schildknappen Sancho Panza vor, um zu beweisen, dass dies sein nächster Roman sein wird.
1966 wurde das Musical „Der Mann von La Mancha“ (Buch: Dale Wasserman) mit einem Tony Award als bestes Musical ausgezeichnet. Vielen dürfte auch die Verfilmung von 1972 mit Peter O‘Toole und Sophia Loren in den Hauptrollen bekannt sein. Das Euro-Studio Landgraf zeigt das Musical aktuell auf Tour in einer originellen Inszenierung, die mit einfachen Mitteln beeindruckt.
Zentrales Element sind die Holzkisten, von denen alle der sieben Darstellerinnen und Darsteller eine hat und sich im Grunde das ganze Stück über kaum davon wegbewegt – ursprünglich, um den coronabedingten Abstand zu wahren, was sich nun aber als kreativer Einfall erweist (Regie: Christian Stadlhofer). Dennoch funktioniert das Zusammenspiel erstaunlich gut. Wenn beispielsweise der Barbier das Rasierbecken, den vermeintlichen Goldhelm des Mambrino, in seine Kiste legt, nimmt ihn Don Quijote nach anfänglichem Gezerre bald darauf aus seiner heraus. Während Aldonza „Mir’s jeder recht“ singt, springen die anderen kurzerhand auf ihre Kisten und tanzen beschwingt mit. Auch der Kampf zwischen Quijote und Pedro, an dessen Ende Aldonza dem Maultiertreiber aus der Entfernung einen Eimer auf den Kopf schlägt, und die spätere Vergewaltigung wirken durch perfekt aufeinander abgestimmte Bewegungen der Akteurinnen und Akteure auch auf die Distanz hin glaubhaft (Choreografie: Jochen Schmidtke, Co-Choreografie: Veronique Lafon).
Die Kostüme sind schlicht und in erdigen Farben gehalten. An den Accessoires erkennt man, welche Figur sie gerade spielen, denn die Darstellerinnen und Darsteller verkörpern mehrere Rollen. So trägt Don Quijote statt einer kompletten Ritterrüstung nur den Brustpanzer und einen Lederhandschuh, um die Lanze besser halten zu können. Aldonza hat ein dunkelrotes Kleid an und ein schwarzes Fransentuch nach spanischer Art um die Hüften gebunden. Der Padre trägt einen schwarzen Mantel mit Knopfleiste, die Haushälterin Kittelschürze und Haube und Carrasco als Doktor eine weiße Halskrause als Zeichen von Stand und Würde.
Die verschiedenen Handlungsorte werden durch Projektionen auf einer Videoleinwand im Hintergrund angedeutet. Eine düstere Mauer stellt das Verlies dar, in der Nacht, wo Don Quijote zum Ritter geschlagen wird, erstrahlt ein Sternenhimmel, wenn er mit Sancho Panza durch das spanische Hinterland reitet, erkennt man in der Ferne eine hügelige Landschaft und die gleißende Sonne, während beim Haus Senor Quijanas ein buntes Kirchenfenster leuchtet. In der bekanntesten Episode, dem Kampf gegen die Windmühlen, schlägt Don Quijote zu einer stetig fallenden Klarinettenmelodie gegen die einzeln rotierenden Mühlenflügel an.
Einfach erscheinen auch die Requisiten: Quijotes Pferd Rosinante und Sancho Panzas Esel Rucio sind großköpfige Handpuppen, deren Hufgetrappel durch Schnalzgeräusche der anderen dargestellt werden. (Ausstattung: Sylvia Wanke). Die Holzkisten haben diverse Funktionen und dienen zum Beispiel als Falltür zum Verlies oder Quijote als Sterbebett. Besonders fantasievoll in die Handlung eingebunden sind die Musikinstrumente. So wird eine am Hals gepackte Gitarre kurzerhand zum Besen umfunktioniert oder der Schallbecher der Klarinette zum Trinkgefäß.
Was jedoch am meisten beeindruckt: Sämtliche Darstellerinnen und Darsteller, mit Ausnahme des Titelhelden, spielen alle auch selbst Instrumente. Eine entsprechend geeignete Besetzung zusammenzustellen, war sicher eine Herausforderung. Auch die eigentlichen Musiker werden als Mithäftlinge und Maultiertreiber in die Handlung miteinbezogen. Die Musik von Mich Leigh mit Gesangstexten von Joe Darion wird dank einer Bandbesetzung mit Keyboard, Gitarren, Cello, Viola, Kontrabass, Schlagzeug und Percussion unter der Leitung von Heiko Lippmann zu einem durchweg im spanischen Stil gehaltenen Erlebnis. Die angsteinflößenden Trommeln der Inquisition gehen in gitarrenlastigen Flamenco über, feuriger Bolero wechselt sich mit strengem Paso Doble ab. Die Partitur ist gespickt mit dramatischen und heroischen Gesangsnummern, allen voran Don Quijotes episches „Der unmögliche Traum“, das bereits von Weltstars wie Frank Sinatra und Placido Domingo interpretiert wurde.
In der Titelpartie des vermeintlichen Ritters Don Quijote, eigentlich Alonso Quijana, und des Dichters Miguel de Cervantes überzeugt Joachim Nimtz vor allem als hervorragender Schauspieler. Sein Don Quijote ist weniger der entrückte, in seinen Illusionen gefangene Fantast adliger Abstammung, sondern vielmehr der entschlossene, von seinen Vorstellungen überzeugte Draufgänger, der sich nicht beirren oder von seinen Vorhaben abbringen lässt, auch wenn sie noch so aussichtslos sind und die anderen ihn für einen albernen Narren halten. Sein Solo „Der unmögliche Traum“ singt er daher eher kräftig und unerschütterlich als heldenhaft strahlend. Umso drastischer wirkt sein Scheitern, als ihm die Spiegel vorgehalten werden und sein gesamtes Weltbild in sich zusammenbricht.
Claus J. Frank spielt Sancho Panza (und Cervantes’ Stallmeister) weniger als geselligen Genussmenschen, wie man ihn aus anderen Interpretationen kennt, sondern als einfachen, bodenständigen, etwas ängstlichen, treuen Begleiter und Weggefährten seines Herrn, der jederzeit für ihn einsteht, auch wenn er dessen Sichtweisen nie so ganz folgen kann.
Die Schlüsselfigur im Stück ist die Küchenmagd und Prostituierte Aldonza, in der Don Quijote seine Angebetete „Dulcinea von Tobosco“ sieht. Annika Bruhns, die im Stück auch Querflöte spielt, verkörpert sie als vom Leben gezeichnete, ruppige Wildkatze, die schlagfertig alle Anbändelungsversuche der Wirtshausgäste abwehrt. Weil sie von Männern immer nur schlecht behandelt wurde, fühlt sie sich von Don Quijotes ritterlichem Werben nach der Art der hohen Minne zunächst „auf den Arm genommen“ und sogar beleidigt. Später lässt sie sich jedoch auf seine Vorstellung ein, weil er der Einzige ist, der sie je mit Anstand behandelt hat, und erhält diese sogar über seinen Tod hinaus aufrecht. Annika Bruhns stellt diese Wandlung auch gesanglich anrührend und glaubhaft dar, wenn sie zunächst mit rauem Ton und später mit gebrochener Stimme singt.
Karen Bild spielt nicht nur Quijanas Nichte Antonia mit scheinheiliger Besorgtheit um ihren Onkel, sondern auch Violoncello, und zeigt vor allem als Barbier, dessen Rasierbecken Don Quijote für den goldenen Helm des fiktiven maurischen Königs Mambrino hält, große Spielfreude und Witz, wenn der Barbier zunächst fast übertrieben tatkräftig, optimistisch und geschäftstüchtig auftritt, bald aber durch Quijotes seltsames Verhalten irritiert und ausgebremst wird.
Claudius Freyer mimt Antonias Verlobten Dr. Sanson Carrasco als hochmütigen, abgeklärten Realisten, der immer das letzte Wort haben muss. Im gemeinsamen Song „Wir denken nur noch an ihn“ merkt man schnell, dass er und Antonia weniger am Gesundheitszustand ihres Onkels, sondern hauptsächlich an dessen Erbe interessiert sind. Einen Sinn für trockenen Humor beweist Freyer als Wirt, der nebenbei auch Gitarre spielt, vor allem in der Szene, wo er immer wieder versucht, Don Quijotes Ritterschlag möglichst kurz abzuhandeln, um lieber schlafen gehen zu können.
Maciej Bittner sorgt für Lacher, wenn er als Gefangener zunächst beleidigt ist, als ihm die Rollen von Quijanas Haushälterin zugeteilt wird. Einen ganz anderen Charakter spielt er als brutaler und gewissenloser Maultiertreiber Pedro, für den eine Frau offensichtlich keinen Wert hat, und zeigt damit schauspielerische Wandelbarkeit. Das Lied „Kleiner Fink“ – in dieser Inszenierung erfreulicherweise in der spanischen Fassung „Ruiseñor, Ruiseñor“ für Nachtigall – singt er mit wohlklingender Stimme und begleitet sich dabei selbst auf der Gitarre. Loïc Damien Schlentz zuletzt beeindruckt durch melodiöse Klarinettenklänge und trägt als Padre den „Psalm“ auch gesanglich ansprechend vor. Die Klarinette passt wunderbar zum Stil der spanischen Musik, womöglich sogar besser als das zuvor für diesen Part eingesetzte Tenorsaxofon.
Diese Inszenierung von „Der Mann von La Mancha“ beweist wieder einmal, dass Musical keine große Show braucht und sich auch mit einfachen Mitteln ein beeindruckendes Theatererlebnis zaubern lässt, das die eigene Fantasie anregt, auch wenn es sich bei dieser Tourneefassung vielleicht weniger um ein Musical als vielmehr um ein Schauspiel mit Musik handelt. Sehenswert machen diese Inszenierung vor allem die schauspielerische Leistung, der originelle Einsatz der Requisiten und Ausstattungsgegenstände sowie natürlich die Besonderheit, dass alle Darstellerinnen und Darsteller auch selbst Instrumente spielen, wie man es im Musicalbereich sonst wohl nur von „Once“ kennt. Als bloße Parodie auf die im späten Mittelalter beliebten Ritterromane und die Romantik des 17. Jahrhunderts funktioniert „Der Mann von La Mancha“ beim heutigen Publikum sicher nur noch bedingt, aber beim Verlassen des Theatersaals fragt man sich schon, ob Don Quijote wirklich nur ein lächerlicher, geisteskranker Narr oder doch einfach ein überzeugter Idealist mit der besseren Sichtweise auf die Dinge ist.
Text: Yvonne Drescher