So emotional wie aktuell: „Mozart!“ in München
Das Münchner Publikum erlebt mit dem Musical „Mozart!“ im ehrwürdigen Prinzregententheater eine beeindruckende Neuinterpretation von Wolfgang Amadeus Mozarts Leben. Unter der herausragenden Regie von Andreas Gergen präsentiert sich das Werk von Sylvester Levay (Musik) und Michael Kunze (Buch und Songtexte), eine Abschlussproduktion der Musicalstudierenden der Bayerischen Theaterakademie August Everding, nicht nur als lebhaftes Musiktheaterstück, sondern auch als tiefgehende Auseinandersetzung mit der Frage: Was ist der Weg des Künstlers?
Die kreative Handschrift des Regisseurs verleiht dem Musical eine einzigartige Dynamik. Gergen inszeniert Mozarts Lebensweg als eine moderne, fast experimentelle Erzählung, die junge Sportlerinnen und Sportler, Schülerinnen und Schüler, in einer Turnhalle Mozarts Biografie nachspielen lässt. Die Turnhalle ist nicht nur ein symbolträchtiger Raum, sondern auch eine Metapher für die Kraft, den Kampf und die stetige Entwicklung eines Künstlers – passend für die jungen Absolventinnen und Absolventen, die mit dieser Aufführung ihr Studium in Kürze abschließen. Vor allem ist der moderne Ansatz eine exzellente Möglichkeit, plausibel zu erklären, warum alle Rollen in etwa das gleiche Alter haben, ohne unglaubwürdig zu wirken.
Das Bühnenbild von Stephan Prattes ist eine Hommage an Mozarts Genialität und die Kunst der Inszenierung. Die farbigen Linien auf dem Boden muten zugleich als Basketballfeld und Bühne eines antiken Amphitheaters an, was durch ein mehrstöckiges halbrundes Baugerüst visualisiert wird – das Kolosseum in Rom lässt grüßen. Im Hintergrund prangt der spiegelverkehrte Schriftzug „W. A. Mozart“ wie das Logo eines amerikanischen Basketballteams.
Conny Lüders’ Kostüme verbinden sportliche Schlichtheit und barocken Pomp. In weißen Sportoutfits präsentieren sich die Mitwirkenden, doch je nach Rolle gibt es liebevolle Akzente: Mozarts berühmter roter Rock wird durch einen pinken Glitzermantel ersetzt, was seiner Figur eine jugendliche Extravaganz verleiht. Die Figuren um ihn herum tragen je nach Rang entsprechende Elemente: Colloredo im gelben Sportdress, Graf Arco mit grauem Pelz und Damen in flachen Reifröcken im europäischen Barockstil. Lüders gelingt ein meisterhaftes Spiel mit Kontrasten zwischen modern und historisch, sportlich und kunstvoll, was die Inszenierung visuell auf das nächste Level hebt.
Alex Frei bringt mit seiner Choreografie eine gute Spannung in die Aufführung. Die Bewegungen wirken dynamisch, präzise und energiegeladen, als würde jede Szene die inneren Kämpfe Mozarts tänzerisch umsetzen. Philipp Contag-Ladas Videodesign verstärkt die moderne Anmutung des Musicals. Szenische Übergänge und Hintergründe werden mit passenden Videoprojektionen unterstützt, die der Inszenierung eine zusätzliche Dimension verleihen. Das Lichtdesign von Benjamin Schmidt unterstützt die Ästhetik der Inszenierung wirkungsvoll, erzeugt Stimmungen von beklemmender Dunkelheit bis zu ekstatischen Glanzmomenten und lenkt den Blick geschickt auf die inneren Dramen der Figuren.
Der eigentliche Star der Aufführung ist das Orchester, geleitet von Andreas Kowalewitz. Mit 40 Musikerinnen und Musikern – das Münchner Rundfunkorchester, verstärkt durch eine Band – erschallt hier eine Klanggewalt, die das Publikum regelrecht überflutet. Kowalewitz beweist einen feinen Instinkt für die Balance zwischen Mozarts Originalzitaten und den Rock-Pop-Einflüssen Sylvester Levays. So erklingen hier Zitate wie das Requiem live und werden nicht wie in früheren Inszenierungen digital eingespielt. Die Instrumentierung ist packend, scharf und von hoher Präzision – ein Klang, der durch das volle Orchesteraufgebot einen seltenen Glanz erhält, denn selbst die Originalproduktion von „Mozart!“ in Wien konnte lediglich mit einem 28-köpfigen Orchester aufwarten.
Ein weiteres ungewöhnliches Element der Inszenierung ist die Besetzung der Mozart-Rolle mit drei verschiedenen Darstellern, damit sich einerseits möglichst alle Studierenden präsentieren können und andererseits so jeweils unterschiedliche Lebensphasen des Komponisten dargestellt werden.
Christian Sattler übernimmt die Rolle des jugendlichen Mozarts und füllt sie mit entwaffnender Leichtigkeit und Charme. Sattlers Komponist ist verspielt, voller Lebensfreude und unbeschwerter Energie. Jens Emmert zeigt Mozart in der Krise, verleiht ihm Schwere und verunsicherte Rastlosigkeit. Er spielt den schmerzvollen Wandel überzeugend und macht die dunkleren Züge des Genies sichtbar. Raphael Binde schließlich verkörpert den reifen Mozart, dem die Last des Lebens und der Kunst spürbar auf den Schultern liegt. Seine Darstellung berührt tief, besonders in den emotionalen Momenten der letzten Szenen.
Sattler spielt im ersten Akt bis zur Szene „Gold von den Sternen“, reicht den pinken Glitzermantel schließlich an Emmert weiter, der den Mantel bis zur Szene „Wer ist wer?“ im zweiten Akt trägt und diesen schließlich an Binde weitergibt. So wird die Idee der Inszenierung, dass hier etwas gespielt, etwas aufgeführt wird, kontinuierlich weitergetragen. Auch die weiteren Mitwirkenden sind nahezu dauerhaft auf der Bühne und sehen ihren Kolleginnen und Kollegen beim Spiel zu.
Ehab Eissa als Leopold Mozart bringt eine autoritäre, verbitterte Präsenz auf die Bühne und verleiht der Rolle durch subtile Gesten sowohl Verzweiflung als auch Liebe. Alida Will als Mozarts Schwester Nannerl wirkt anrührend und stark zugleich, ihre gesanglich perfekte Interpretation von „Der Prinz ist fort“ lässt diesen sonst so langweiligen Song in einem ungeahnt frischen Gewand erscheinen.
Theodor Pop als Colloredo in seinem gelben Sportdress vermittelt eine Kälte, die in scharfem Kontrast zu Mozarts überschwänglicher Persönlichkeit steht. Ein inszenatorisches Highlight ist hierbei ein Boxkampf zwischen Colloredo und Mozart, bei dem Letzterer vom Fürsterzbischof zwar ordentlich in den Schwitzkasten genommen wird, aber unmissverständlich klar macht: „Ich bleibe in Wien!“
Laura Oswald zeigt als Constanze eine facettenreiche und selbstbewusste Partnerin an Mozarts Seite, die auch die dunklen Abgründe des Genies miterleben muss. Besonders berührend ist ihr Auftritt in „Irgendwo wird immer getanzt“, in dem sie gebrochen und verzweifelt, aber dennoch extrem stark erscheint.
Bjarne Rentz als Graf Arco bringt eine eisige Autorität in die Rolle, Melanie Maderegger als Cäcilia Weber spielt die strenge Mutterrolle hervorragend und zeigt unter anderem im Song „Du hast ihn an der Angel“ das Gesicht der durchtriebenen Weberschen. Marleen Dederding beeindruckt als Baronin von Waldstätten, indem sie eine schillernde Märchenfee gibt und dabei eine faszinierende Leichtigkeit und Wärme ausstrahlt. Für ihre wunderbare Interpretation von „Gold von den Sternen“ erhält sie erwartungsgemäß den stärksten Szenenapplaus.
Brandon Miller schließlich brilliert als Emanuel Schikaneder und bringt mit humorvoller, sprühender Energie Schwung in sein Solo, so dass er das Publikum für sich gewinnt und die Figur herrlich exzentrisch und unvergesslich macht. Als Librettist der „Zauberflöte“, Mozarts wohl bekanntester und meistgespielter Oper, nahm Schikaneder immerhin auch keine unbedeutende Rolle im Leben des Komponisten ein.
Eine besonders gelungene Neuerung ist das Porzellankind Amadé, das nicht mehr von einem Kind gespielt, sondern durch eine Puppe (Design, Bau und Coaching: Michaela Studeny und Richard Panzenböck) symbolisiert wird. Diese weiß-glitzernde Puppe, die anfangs wie ein fremdartiges Wesen wirkt, lässt das Genie Mozarts, sein unnahbares, übermenschliches Talent, unheimlich real wirken. Bewegungen, die durch drei Puppenspielende gelenkt werden, intensivieren die Szenen zwischen Mozart und Amadé. Das Zusammenspiel der Puppe mit den Darstellern erreicht eine berührende Tiefe, die das Publikum mitfühlen lässt – ob in den liebevollen oder den zerstörerischen Momenten, wenn zum Beispiel Amadé den erwachsenen Mozart würgt oder letztendlich symbolisch seinen Federkiel ins Herz sticht.
Andreas Gergen beweist in dieser Inszenierung großen Einfallsreichtum und Gespür für das Außergewöhnliche und Aktuelle. So werden Geschlechtergrenzen ausgehebelt, indem Graf Arcos Kammerherr mit Valentina Pohl weiblich und die Kaiserin Maria Theresia mit Nico Burbes männlich besetzt wurde. Wenn die Baronin von Waldstätten mehrmals märchenhaft von oben herabschwebt und wieder verschwindet, wirkt das spektakulär. Dieser Effekt verleiht dem Musical eine fast magische Komponente. Die Tricktechnik, bei der das Schriftstück blitzschnell in die Hände des nächsten Darstellers wandert, als Mozart zum Vertrag mit der Familie Weber gezwungen wird, bringt weiter etwas in die Handlung ein, das die Thematik des Seins und Scheins pointiert unterstreicht.
Auch die Dunkelheit in Mozarts Welt wird nicht ausgespart: Mozarts Leben wird so ungeschönt gezeigt, wie es möglicherweise wirklich war – ein Leben voller Exzesse und Abgründe. Bei der zentralen Frage danach, was der Weg des Künstlers ist, schönt Gergen nichts und zeigt auch die andere Seite des vermeintlich glitzernden Showgeschäfts: Der Komponist lässt sich von seinen männlichen Trieben leiten, er trinkt und spielt. Seine Frau liegt betrunken mit einer Weinflasche im Bett, zieht sich eine Line Koks. Zudem nutzt der Regisseur überdimensionale Mozartkugeln, symbolisiert damit den Kommerz rund um Mozart. Am Ende droht eine riesige Mozartkugel schließlich, den Künstler zu überrollen – die Last auf seinen Schultern ist so groß geworden, dass er daran zerbricht.
Diese Inszenierung von „Mozart!“ ist letzten Endes so emotional wie aktuell, eine brillante Interpretation, die die Genialität des Komponisten, aber auch seine Abgründe und Kämpfe mit dem Leben und der Kunst eindrucksvoll spürbar macht. Andreas Gergen und das gesamte Kreativteam beweisen in allen Aspekten Mut und Liebe zum Detail, ohne dabei den tiefen Respekt zu verlieren. Die Verknüpfung von Tradition und Moderne, von Musik und Bühnenbild, ist eine meisterhafte Umsetzung, die im Gedächtnis bleibt. Um es anders auszudrücken: Genau 25 Jahre nach der Uraufführung ist „Mozart!“ jetzt in der Gegenwart angekommen und öffnet sich einem neuen, jungen Publikum.
Text: Dominik Lapp